Mechthild Rawert (rechts im Bild) ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
BBZ: Der Europarat hat eine Resolution und einen Bericht zur Stärkung der politischen Rechte von Menschen mit Behinderung beschlossen. Was steht da drin?
Mechthild Rawert: Der Europarat hat wichtige Handlungsempfehlungen für ein inklusives Wahlrecht und für mehr politische Teilhabe für Menschen mit Behinderungen beschlossen. Ich freue mich, dass die von mir eingebrachte Resolution und der Bericht „Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen: ein demokratisches Anliegen“ am 10. März 2017 angenommen wurde.
BBZ: Was heißt der Beschluss für Deutschland?
Mechthild Rawert: Die beschlossene Resolution gibt den 47 Mitgliedsstaaten, darunter natürlich auch Deutschland, konkrete Handlungsempfehlungen. Er ist ein guter Rückenwind für die von der SPD für Deutschland geforderte Änderung des Bundeswahlrechts JETZT. Der Bericht liefert eine Analyse der Situation von Menschen mit Behinderung. Auch diese wollen sich politisch einbringen, wollen ihre Bürger*innenrechte wahrnehmen. Besonders spannend finde ich die zahlreichen positiven Beispiele anderer Mitgliedsstaaten. Diese haben Vorbildwirkung und wir können von ihnen eine Menge lernen, was wir besser machen können.
BBZ: Was ist aus Ihrer Sicht das größte Hindernis für die politische Teilhabe?
Mechthild Rawert: Das Recht zu wählen und gewählt zu werden gehört zu den fundamentalen Menschenrechten. Das hat auch die UN-Behindertenrechtskonvention festgestellt. Die Einschränkungen und Barrieren bei der Teilhabe am politischen Leben für Menschen mit Behinderung sind auf allen Ebenen noch groß: Sie erfahren zu wenig Unterstützung in den Parteien und beim politischen Engagement. Es gibt noch zu viele Barrieren baulicher Art aber auch durch eine geringe Akzeptanz. Es gibt zu wenige Vorbilder, so sind in den Parlamenten Abgeordnete mit einer Behinderung die Ausnahme. In den meisten Mitgliedsstaaten fehlt ein inklusives Wahlrecht. So dürfen hunderttausende Menschen nicht wählen, da das Wahlrecht an die Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft wird. Das sind allein in Deutschland über 84.000 Menschen mit Behinderungen
BBZ: Können Sie ein paar positive Beispiele aus dem Bericht nennen?
Mechthild Rawert: In Österreich ist das Wahlrecht seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr an die Rechts- und Handlungsfähigkeit gebunden. In Norwegen wird die Auswahl von Wahllokalen nach den Anforderungen der Barrierefreiheit bestimmt. In Schweden dürfen unzugängliche Räumlichkeiten nicht mehr für Wahllokale genutzt werden. Wahlhelfer*innen in Belgien und Irland erhalten Leitfäden für eine barrierefreie Stimmabgabe, für die praktische Unterstützung und den Umgang mit Wählern mit Behinderungen. In Norwegen werden Informationen über Wahlen auf einer Internetseite bereitstellt, die Texte in leichter Sprache enthält mit der Möglichkeit, sie sich vorlesen zu lassen. Videos verfügen über Untertitel und gesprochenen Kommentar.
In Österreich werden Parlamentsdebatten im Fernsehen mit Gebärdendolmetschung übertragen. Fernsehsendungen über Wahlkämpfe in Serbien werden in Gebärdensprache gedolmetscht. Die Wahl-Video-Spots politischer Parteien werden in Frankreich und Portugal untertitelt und in Gebärdensprache verdolmetscht. In Norwegen müssen die Parteibüros barrierefrei sein.
BBZ: Was sind konkrete Forderungen der Resolution?
Mechthild Rawert: Das Wahlrecht muss von der Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie der Betreuung in allen Angelegenheiten entkoppelt werden. Wir brauchen ein inklusives Wahlrecht.
Die gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen muss beendet werden. Die Rolle von Selbstvertretungsorganisationen und Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, muss gestärkt werden.
Die vielfältigen Formen von Beeinträchtigungen und Behinderungen erfordern auch eine Vielfalt an Maßnahmen. Diese Unterschiede müssen berücksichtigt werden. Beim Wählen gehen gibt es für Menschen mit Behinderungen noch vielfältige Barrieren. Es müssen mehr barrierefreie Wahllokale geschaffen werden, sowohl für Rollstuhlfahrende, als auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder gehörlose Menschen.
Auch Parlamentsgebäude müssen barrierefrei sein, damit Abgeordnete mit Behinderungen hier gleichberechtigt arbeiten können. Parlamentsdebatten und Informationen sind in barrierefreien Formaten bereitzustellen.
Politische Parteien spielen eine entscheidende Rolle für die aktive politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Sie müssen darauf achten, dass ihre Veranstaltungen in barrierefreien Räumen stattfinden. Wahlkampagnen und das Wahlkampfmaterial der Parteien dürfen Menschen mit Behinderungen nicht mehr ausschließen. Die Wahlkampfspots sollen mit Untertiteln und Übersetzung in Gebärdensprache gezeigt sowie Wahlkampfmaterialien in „leichter Sprache“ bereitgestellt werden.