600 Leben – Tabuthema Suizid

von: Berliner Behindertenzeitung

fallende_Teilnehmer KopieZum dritten Mal rief der Verein „Freunde fürs Leben“ zum Flashmob am Brandenburger Tor auf, um öffentlichkeitswirksam ein Zeichen gegen die Tabuisierung von Depressionen und Suizid zu setzen

Es ist viel los an diesem Samstag in Berlin. Einschulung, Musikfestival, Bürgerfest beim Bundespräsidenten, diverse „offene Türen“ und strahlender Sonnenschein laden zum Feiern und Flanieren unter blauem Himmel ein. Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für eine Aktion zum Thema Depressionen und Suizid. Dennoch finden zahlreiche Interessierte den Weg an die Infotische vor dem Brandenburger Tor, um sich über die Arbeit des Vereins und weiterer Akteure aus dem Bereich der seelischen Gesundheit zu informieren.

Seit 2003 ist der 10. September der WHO-Welttag der Suizidprävention und Freunde fürs Leben nutzt diesen Stichtag seit 2014, um mit einem flashmob am Tabu Suizid zu rütteln. Die Aktion ist so simpel wie beeindruckend: Eine möglichst große Gruppe Menschen trifft sich vor dem Brandenburger Tor und sinkt auf ein lautes Hup-Signal zu Boden. Eine Gruppe von Politikern und Prominenten reicht jedem Einzelnen die Hand und hilft ihm wieder auf. Dieses Aufhelfen ist der symbolische Kern der Aktion, denn oft hat am Ende eben diese Hand gefehlt, um vom Suizid abzuhalten.Dabei geht es dem Verein vor allem um die etwa 600 Menschen unter 25 Jahren, die sich jedes Jahr das Leben nehmen.

Ein wichtiger Akteur und Unterstützer der Aktion 600 Leben ist die Caritas, die mit dem Projekt u25 eine auf die junge Zielgruppe zugeschnittene Beratung anbietet. Während Freunde fürs Leben die Öffentlichkeit sensibilisieren will und sich die Umsetzung einer nationalen Aufklärungskampagne zum Ziel gesetzt hat, bieten die Teams der u25 ein niedrigschwelliges Hilfsangebot für junge Menschen in einer suizidalen Krise. Es handelt sich dabei um ein anonymes Beratungsangebot per mail-Kontakt und holt die Jugendlichen dort ab, wo sie heutzutage vorrangig zu finden sind: im Internet. Abgeholt werden sie von Menschen in ihrem Alter, den sogenannten „Peer-Beratern“, die selber zwischen 16 und 25 Jahren sind und nach einer viermonatigen Ausbildung und mit professioneller Unterstützung ehrenamtlich die Begleitung der Hilfesuchenden übernehmen. Nicht jeder, der sich an u25 wendet, ist akut suizidgefährdet, aber die Möglichkeit über Leistungsdruck, Mobbing, Liebeskummer oder Zukunftsängste zu sprechen, verhindert oftmals den Weg in eben jene Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die zum Suizid führt.

Kurz vor zwölf ist es auf dem Pariser Platz dann soweit: Etwa 300 Teilnehmer stellen sich auf und erwarten mit Blick in Richtung Unter den Linden das Signal. Touristen sind darunter, betroffene Angehörige, Menschen mit Depressionen, Menschen aus helfenden Berufen und viele Ehrenamtler unterschiedlichen Alters. Man kommt ins Gespräch miteinander, witzelt etwas unsicher, ob man am Ende auch wirklich „aufgehoben“ wird und erzählt, warum man vor Ort ist. Eine junge Frau berichtet offen von ihren Depressionen und ihre Nachbarin sagt nach einigem Zögern, sie sei wegen ihrer Tochter hier, die sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat und wird vorsichtig umarmt.

Es sind berührende Momente, die entstehen und als das Signal ertönt und alle nach und nach zu Boden sinken, herrscht kurzzeitig eine ganz unwirkliche Spannung. Rechts und links schauen die Liegenden verstohlen nach hinten, ihren Helfern entgegen, die zügig Hände ergreifen und aufhelfen.Keine zwei Minuten dauert es und alle stehen wieder aufrecht und applaudieren lange, als die Organisatorenden Schriftzug „600 Leben“ in großen Papp-Buchstaben über ihre Köpfe recken und Fotos von der großen Gruppe gemacht werden.

Die Aktion war ein Erfolg, der sich auch in Form einer Spende ausdrückt: 2.000 Euro gibt ein Sponsor für die Weiterführung der Arbeit auf dem Weg zu der nationalen Aufklärungskampagne. Was sie sich wünscht für das nächste Jahr? Noch mehr Teilnehmer und vielleicht nicht ganz so gutes Wetter, antwortet eine der Organisatorinnen und lächelt. Und noch mehr Öffentlichkeit, denn in Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen und AIDS zusammen. Über seelische Erkrankungen und Suizid reden zu können, kann Leben retten. Aktionen wie 600 Leben und Hilfsangebote wie u25 holen das Thema aus der Tabuzone und tragen genau dazu bei.

Fakten/Zahlen:

  • Eine Millionen Suizide weltweit
  • 10.000 Suizide jährlich in Deutschland
  • davon 600 Menschen unter 25 Jahre
  • alle 53 Minuten ein vollzogener Suizid
  • auf einen Suizid kommen 15-20 Versuche
  • 80% der Suizide sind angekündigt
  • 15% der Menschen mit Depressionen sterben durch Suizid

Webseiten:

  • www.600leben.de
  • www.frnd.de
  • www.u25.de
  • www.depressionsliga.de