Barrieren lassen sich allein mit Aufklärung nicht beseitigen

André Nowak im Gespräch mit dem Landesbehindertenbeauftragten Dr. Jürgen Schneider

von: Berliner Behindertenzeitung

BBV-Forum_2016--6

Der Landesbehindertenbeauftragte, Dr. Jürgen Schneider (rechts im Bild). Hier auf der Mitgliederversammlung des Berliner Behindertenverbandes mit Dominik Peter (links)..

Rund 100 Seiten umfasst der Bericht des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung für den Zeitraum März 2013 bis Februar 2016, den der Berliner Senat dem Abge- ordnetenhaus am 1. Juni als Drucksache 17/2975 zur Besprechung übergab. Das Dokument hat zwei Teile: der Verstößebericht und der Tätigkeitsbericht. Dr. Jürgen Schneider ist seit 2009 im Amt und legt nach 2011 und 2013 nun zum dritten Mal seinen Bericht vor.

 

BBZ: Laut Ihrer Internetseite besteht die Hauptaufgabe des Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung darin, für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung im Land Berlin zu sorgen. Inwieweit konnten Sie die Aufgabe in dem Berichtszeitraum, also den vergangenen drei Jahren, erfüllen?

Jürgen Schneider: Die Aufgabe des Landesbeauftragten (LfB) ist im Landesgleichbe- rechtigungsgesetz (LGBG) in § 5 Abs. 2 wie folgt definiert: „Aufgabe des oder der Lan- desbeauftragten für Menschen mit Behinderung ist es, darauf hinzuwirken, dass die Verpflichtung des Landes, für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sor- gen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird, und insbesondere auf die fortlaufende Umsetzung der Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt zu achten.“ Der oder die LfB hat also vor allem die Kontrollfunk- tion, darauf hinzuwirken, dass der Senat als Ganzes seiner Ver- pflichtung aus Artikel 11 der Verfassung von Berlin nachkommt. Die Kompetenzen habe ich allerdings – und das wird mir ja auch vorgeworfen – insbesondere mit der Ausrichtung meiner Verstößeberichte überschritten, in dem ich mich nicht nur als Kontrolleur betä- tigt habe, sondern auch mit konkreten Vorschlägen aktiv eingemischt habe. Bezogen auf die letzten 3 Jahre sind zum Beispieldie Fortschritte, bezogen auf einen Gegenstand des aktuellen Verstößeberichts,den barrierefreien Wohnungsbau, das Ergebnis jahrelanger Kärnerarbeit, deren Früchte allerdings noch geerntet werden müssen.

BBZ: Ich finde beide Berichte sehr informativ. Sie geben aber nicht nur einen Überblick über Erreichtes, sondern beinhalten auch viele Vorschläge für Politik und Verwaltungen sowie kritische Anmerkungen über die Arbeit des Berliner Senates. Bestimmte Punkte – von dem wachsenden Mangel an barrierefreien Wohnungen bis zur personellen Unterbesetzung Ihres Büros – finden sich seit Jahren in allen Berichten wieder. Haben Sie das Gefühl, dass sich trotzdem was verändert oder sind die Berichte wirkungslose Papiertiger?

Jürgen Schneider: Wenn man in die Bewertung auch den Entstehungsprozess und den Wirkungsprozess einbezieht, ist keiner meiner Berichte wir- kungslos geblieben. Wesentliche Elemente der Berichte waren bereits vorher Gegenstand längerer politischer Ausein- andersetzungen. Dies gilt für meine Kritik am kostenneutral angelegten schulischen Inklu- sionskonzept im ersten Bericht, für den Kampf um das auto- matische Buskneeling im zweiten Bericht und für die Bauordnung im dritten Bericht. Alle Berichte haben unabhängig von der jeweiligen Senatskon- stellation für Ärger gesorgtund sind nicht ohne Wirkung geblieben. Sogar die personelle Ausstattung des Büros ist im letzten Berichtszeitraum mit der Schaffung einer seit 1999 geforderten Planstelle für eine/einen wissenschaftlichen Mitarbeiter verbessert worden, auch wenn dies für den gleichzeitigen Aufgabenzuwachs nicht ausreichend ist.

BBZ: Laut dem LGBG sind bei- de Berichte jährlich dem Abgeordnetenhaus vorzulegen. In der Praxis sind die Abstände zwischen den Berichten deutlich größer und beim Lesen kommt auch die Frage, warum die zwei Berichte nicht zusammengelegt werden?

Jürgen Schneider: Hier besteht ein dringender Novellierungsbedarf für das LGBG. Die im Vergleich mit allen Bundesländern einmalige Möglichkeit eines Verstößeberichts ist aktuell mit der Verpflichtung zu einem getrennten Tätigkeitsbericht verbunden,der hinsichtlich der Jährlichkeit in keinem Bundesland gefordert ist. Ich strebe deshalb einen anlassbezogenenVerstößebericht mit der Möglichkeit zur Darstellung von Initiativen, Tätigkeiten und Zielsetzungen des LfB an. Eine solche Regelung lässt einerseits Raum für langfristige Einflussnahmen auf behindertenpolitische Prozesse (wie bisher geschehen) und schafft andererseits die Möglichkeit auf Fehlentwicklungen unmittelbar und zeitnah zu reagieren, während die Jährlichkeit den LfB regelmäßig auch dann zeitlich in Anspruch nimmt, wenn seine Kapazitäten im laufenden Geschäft eigentlich woanders gefordert sind.

BBZ: Einziges Thema im Verstößebericht ist die Änderung der Berliner Bauordnung. Ihre sehr deutliche und ausführlich begründete Kritik am Gesetzentwurf wird vom Landesbe- hindertenbeirat sowie in den beigefügten Stellungnahmen von sechs Bezirken unterstützt, aber von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt strikt zurückgewiesen. Inzwischen hat die SPD-CDU- Koalition das vom Bausenator Geisel (SPD) eingebrachte Gesetz unverändert im Abgeord- netenhaus beschlossen. Wie erklären Sie sich das?

Jürgen Schneider: Die Vorgeschichte des Gesetzgebungsverfahrens und auch die Beschlussfassung im Abgeordnetenhaus stellen sich etwas anders dar. Auch wenn das Ergebnis insbesondere wegen der strikten Verfolgung der bereits mit der letzten Novelle 2005 verfolgten Mustertreue völlig unbefriedigend ist, so lohnt sich doch der Blick auf den neuen § 50 Abs. 1 und die noch durch die Koalition in der abschließenden Sitzung des Bauausschusses am 1. Juni 2016 geänderte Regelung zum barrierefreien Wohnungsbau. Angetreten war die zuständige Senatsverwaltung in 2014 mit einer praktisch unveränderten Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung eines Wohngeschosses und abgeschlossen wurde der Prozess mit der Verpflichtung zu einem Anteil von zunächst 30 Prozent und ab 2020 von 50 Prozent barrierefreiem Wohnungsbau im aufzugspflichtigen Geschosswohnungsbau. Kombiniert mit dem vorhandenen Bauboom,der in der Regel mehr als 4 Stockwerke im Wohnungsbau bedeutet, und dem Versuch einer Definition von Anforderungen an barrierefreien Wohnungsbau im Änderungsantrag der Koalition ergeben sich verbesserte Voraussetzungen für die unter Beteiligung von Behindertenvertretern vorgesehene Rechtsverordnung „Barrierefreier Wohnungsbau“. Wenn man bedenkt, dass die damals zuständige Senatorin in der letzten Legislaturperiode auf einer Veranstaltung des BBV bestritten hat, dass es in Berlin überhaupt ein Wohnungs- problem und im Besonderen ein Problem mit barrierefreien Wohnungen gibt, dann kann man hier von einem von den Betroffenenvertretern und vom LfB erkämpften Fortschritt ausgehen.

BBZ: Am 18. September wird gewählt. Was sind aus Ihrer Sicht auf behindertenpoliti- schem Gebiet die großen Er- folge der jetzigen SPD-CDU- Koalition und was geben Sie dem neuen Abgeordneten- haus und dem nächsten Senat gern mit auf dem Weg?

Jürgen Schneider: Große Erfolge hat es in Berlin auf behindertenpolitischem Gebiet leider seit 1999 nicht mehr gegeben. Behindertenpolitik steht im Unterschied zu den neunziger Jahren nicht mehr im Focus der Landespolitik und auch nicht im Focus der Bundespolitik, was man daran ablesen kann, dass die letzten halbwegs gelungenen Gesetzgebungsverfahren auf der Bundesebene bereits 2001 bzw. 2002 abgeschlossen wurden. Seit den neunziger Jahren gibt es auch hinsichtlich der menschenrechtlichen Dimension der Teilhabeansprüche von Menschen mit Behinderung und trotz der seit März 2009 gültigen UN-Behindertenrechtskonvention keine wirklichen Fortschritte mehr.

Die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung setzt häufig- kostenträchtige Nachteilsausgleiche voraus und ist mit Symbolpolitik oder reiner An- tidiskriminierungspolitik nicht zu haben. Mit Aufklärung und Bewusstseinsbildungallein las- sen sich vorhandene Barrieren nicht kurzfristig beseitigen. Es braucht auch den grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Konsens, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung als Menschenrecht nicht nach Kassenlage definiert werden darf.

Dabei läuft uns auch wegen der unaufhaltsamen demografischen Entwicklung in vielen Bereichen die Zeit davon, was mich ja bezogen auf die Bauordnung dazu veranlasst hat, insbesonderedamit zu argumentieren.

Für die neue Legislaturperiode wünsche ich mir eine konsequente Umsetzung der 10 behindertenpolitischen Leitlinien, die u. a. die Fort- schreibung der Leitlinien zum Ausbau Berlins als barrierefreie Stadt und ein Artikelgesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention umfassen. Letzteres beinhaltet auch die dringend notwendige Novellierung des LGBG.

BBZ: Danke, für das Gespräch.

 

Wir haben Ihr Interesse geweckt und Sie möchten den Verstößebericht lesen. Diesen können Sie hier herunterladen: 11-verstoessebericht-2013-2016_e-2.pdf