Behindertenpolitik aus Menschenrechtsperspektive

Substantielle Verbesserungen der Teilhabemöglichkeiten dringend nötig

von: Berliner Behindertenzeitung

Einen offenen Brief richteten die drei Vereine „Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e.V.“, „Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen ForseA e.V.“ und „Mobil mit Behinderung“ an die Verhandlungsführer der Parteien, die eine Koalition bilden möchten. Den Brief veröffentlichen wir hier ungekürzt.

Sehr geehrte Verhandlungsführerinnen und Verhandlungsführer,

Sie beginnen demnächst mit Koalitionsverhandlungen. Wir brauchen eine handlungsfähige und zukunftsorientierte Regierung. Zukunft heißt für uns: Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und Berücksichtigung der Hinweise des UN-Fachausschusses vom April 2015 in den kommenden Jahren. Das betrifft nicht nur Millionen Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige, sondern hat auch Auswirkungen auf viele andere Teile der Bevölkerung. Die in der vergangenen Wahlperiode diesbezüglich verabschiedeten Gesetze (BGG, BTHG) sind ein Anfang. Sie sind jedoch nicht geeignet, die UN-BRK umzusetzen und in der deutschen Behindertenpolitik eine Menschenrechtsperspektive zu eröffnen.

Wir bitten Sie daher dringend, in der Koalitionsvereinbarung zu verankern, dass Behindertenpolitik eine Menschenrechtsaufgabe ist und hohe Priorität genießt. Weder kann Gesundheits- noch Sozialpolitik allein unsere Probleme lösen.

  • Wir brauchen umfassende Barrierefreiheit in allen Bereichen. Das betrifft Bund,

Länder und die kommunale Ebene.

Das betrifft den öffentlichen und den privaten Bereich.

Das betrifft Bauten und Kommunikation.

Das betrifft öffentliche und individuell Mobilität.

Deshalb muss die Schaffung von Barrierefreiheit durchgehendes Prinzip in allen Ressorts werden.

  • Stigmatisierung und Diskriminierung müssen verboten und geahndet werden. Es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gegebenenfalls erforderliche Ressourcen müssen daher aus Steuermitteln und bedarfsdeckend aufgebracht werden. Auch kleine, sozial ausgerichtete Vereine bedürfen einer speziellen Förderung.
  • Selbstbestimmte Teilhabeermöglichung muss entbürokratisiert werden. Das Konzept der personalen Assistenz muss ausgebaut und gestärkt werden. Assistentinnen und Assistenten (ob Familienangehörige oder bezahlte Kräfte) leisten nicht weniger wertvolle Arbeit als examinierte Pflegekräfte. Die Befristung von Bewilligungen persönlicher Budgets darf nicht länger als Damoklesschwert über dem Haupt der Betroffenen hängen.
  • Sonderregelungen weitestgehend vermeiden Das Leben in der eigenen Wohnung oder einer selbstgewählten WG (ggf. mit Assistenz) muss finanziell, strukturell und mental Vorrang vor Aussonderungseinrichtungen erhalten. Die behinderten Menschen sollen nicht länger in Hilfe gebende Einrichtungen gebracht werden, sondern die Hilfe soll zu den Menschen kommen. Das Arbeiten in normalen Betrieben muss (ggf. mit Arbeitsassistenz) Vorrang vor Aussonderungswerkstätten erhalten.
  • Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 unseres Grundgesetzes muss endlich umgesetzt werden. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Artikel 1 Absatz 3 Grundgesetz muss zwingend Berücksichtigung finden: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Die laufende Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes zum Artikel 3 Grundgesetz muss berücksichtigt werden.
  • Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen) muss fair und ehrlich umgesetzt werden. Dabei darf die zugrundeliegende Intention nicht beschädigt werden.

Wir wünschen Ihnen erfolgreiche Verhandlungen und uns eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik der zukünftigen Regierung und verbleiben

mit zuversichtlichen Grüßen

Dr. Ilja Seifert, ABiD-Vorsitzender

Heinrich Buschmann, Vorsitzender Mobil mit Behinderung e.V.

 

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