Behindertenrechtskonvention in Tadschikistan

Grußwort an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des IVB-Seminars zur UN-Behindertenrechtskonvention in Duschanbe (Tadschikistan) vom 14. bis 16. November 2017

von: Ilja Seifert

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Dr. Ilja Seifert, Bundesvorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland (ABiD).

Grußwort: Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 ist ein großartiges Menschenrechtsdokument. Sie kann auch in verkrüppelten Händen behinderter Menschen ein wirkungsvolles Werkzeug werden. Es geht um freie Persönlichkeitsentfaltung, selbstbestimmte Teilhabe an allen Lebensbereichen, umfassende Barrierefreiheit; kurz, es geht um die volle und gleichberechtigte Wirksamkeit der universalen Menschenrechte auch für Frauen und Männer, Kinder und Alte mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Aus diesem Grund veröffentlichen wir die Grußworte des Bundesvorsitzenden des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland (ABiD).

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

Die internationale Vereinigung von Behindertenverbänden postsowjetischer Länder (IVB) wählte mich 2015 in Berlin zu ihrem Schirmherren. Das ist mir eine große Ehre. Leider konnte ich in dieser Funktion – vorrangig aus gesundheitlichen Gründen – bisher noch nicht viel Gutes tun. Und leider kann ich aus denselben Gründen nicht persönlich an Ihrem wichtigen Seminar teilnehmen. Aber ich freue mich, daß es uns gelang, eine kleine ABiD-Delegation – bestehend aus Uwe Hoppe, meinem Stellvertreter, André Nowak, unserm Schatzmeister und Frank Viohl, unserem Geschäftsstellenleiter – zu Ihnen zu entsenden. Ich erlaube mir, Ihnen auf diesem Wege ein Grußwort zu übermitteln, in dem ich einige wichtige Punkte kurz in Erinnerung rufen möchte.

Menschen mit Behinderungen sind weltweit noch Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Das beginnt damit, daß sie von Ihren Familien „versteckt“ oder in großen Schlafsälen ohne jede individuelle Rückzugsmöglichkeiten „aufbewahrt“ werden. In manchen Ländern wird Ihnen quasi automatisch jede Geschäftsfähigkeit abgesprochen, so daß sie z.B. nicht einmal das allgemeine Wahlrecht wahrnehmen können. In anderen Fällen finden sie kaum Arbeitsmöglichkeiten. Auch in hochentwickelten Ländern wird es Ihnen schwer gemacht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mit Hilfe von Assistenz in einer barrierefreien eigenen Wohnung zu leben, eine Familie zu gründen, Sport- und Freizeitaktivitäten wahrzunehmen usw. usf.

Die UN-Behindertenrechtskonvention bestätigt aber unser Recht, unser Leben inmitten der Gesellschaft so selbstbestimmt wie alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft zu gestalten. Wir sind Teil der Gesellschaft. Mittendrin. Keine „Randgruppe“. Behinderung ist kein Makel, den es zu „reparieren“ gilt, sondern ein Teil unserer Persönlichkeit. Behinderung ist also kein medizinisches Problem. Wir können damit leben. Wenn die behinderungsbedingten Nachteile ausgeglichen werden, können wir sogar unsere Fähigkeiten nicht nur zum persönlichen Wohlbefinden sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse entfalten.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hebt Behindertenpolitik endgültig aus der medizinischen, pflegerischen und sozialen Versorgungsecke auf die Ebene der menschenrechtlichen Ansprüche. Wir sind keine Bittsteller, denen Almosen barmherzig „gewährt“ werden. Wir haben die gleichen Rechte – und selbstverständlich auch die gleichen Pflichten – wie alle anderen sozialen Gruppen und Schichten der Gesellschaft.

In den meisten Ländern der Welt ist die UN-Behindertenrechtskonvention inzwischen unterschrieben und ratifiziert. In Deutschland ist sie beispielsweise seit März 2009 geltendes innerstaatliches Recht. Damit sind längst nicht alle Probleme gelöst. Aber wir – die Menschen mit Behinderungen und unsere Selbstvertretungsorganisationen – haben jetzt ein neues, wirksames Instrument in der Hand, unsere Rechte einzufordern.

In Deutschland gibt es seit Jahrzehnten Behindertenschulen, Behindertenwerkstätten und Behindertenwohneinrichtungen. Auf den ersten Blick sehen sie gut aus. Aber es sind Sondereinrichtungen. Sie sondern uns von der Gesellschaft ab und aus ihr aus. Das ist inzwischen zwar als Problem erkannt, dennoch haben wir heutzutage große Schwierigkeiten diese Aussonderungs–Ideologie zu überwinden. Deshalb kann unser Rat an Sie nur sein, diese selektive Institutionalisierung gar nicht erst einzuführen. Die UN-Behindertenrechtskonvention orientiert auf Inklusion, nicht auf Selektion und Exklusion. Es geht darum, Sonderlösungen zu vermeiden und allgemeine, von allen nutzbare Wege zu finden. Das erreichten wir beispielsweise im öffentlichen Personenverkehr. Inzwischen sind Niederflurbusse und Niederflurstraßenbahnen allgemein üblich. Das ist für Rollstuhlfahrer die einzige Möglichkeit, sie zu benutzen. Aber alle anderen – vor allem kleine Kinder und ältere Leute – nutzen diese bequeme Einstiegsmöglichkeit auch gerne. Noch vor 30 Jahren galt unsere Forderung nach einem für alle nutzbaren öffentlichen Personenverkehr als Utopie. Wir mußten energisch kämpfen und viele Vorurteile abbauen. Es zeigt sich also, wie wichtig und gesellschaftlich nützlich starke Selbstvertretungsorganisationen sind. Wenn Sie unsere diesbezüglichen Erfahrungen nutzen, gelingt Ihnen die Umstellung auf durchgängig barrierefreie Mobilität vielleicht schon in der Hälfte der Zeit? Das wäre großartig!

In Tadschikistan ist die Konvention – soweit ich weiß – leider noch nicht gültig. Ich hoffe sehr und bin zuversichtlich, daß Ihr Seminar dazu beiträgt, auch in Ihren Land die Menschenrechtsperspektive zum Ausgangspunkt politischen, verwaltungsmäßigen und zwischenmenschlichen Handelns werden zu lassen. Umfassende Barrierefreiheit ist für viele Menschen mit Behinderungen eine Grundvoraussetzung für selbstbestimmte Teilhabe. Aber sie schafft auch allen anderen Bürgerinnen und Bürgern mehr Bequemlichkeit. Das Konzept der persönlichen Assistenz ermöglicht auch schwerstbehinderten Frauen und Männern ein selbstbestimmtes Leben. Gleichzeitig schafft es viele Arbeitsplätze. Wenn Politik und gesellschaftliches Gesamtverhalten dem Nutzen-für-alle-Prinzip folgt, ist das eine win-win-Situation.

Leider kann ich mich ja an den konkreten Diskussionen Ihres Seminars nicht beteiligen. Deshalb muß ich mich mit diesem Grußwort auf allgemeinen Grundsatzbemerkungen beschränken. Dennoch hoffe ich zuversichtlich, daß Ihnen ein erheblicher Erkenntniszuwachs gelingt, der zu positiven Ergebnissen und praktischen Veränderungen zugunsten der Menschen mit Behinderungen in Tadschikistan und den anderen Teilnehmerländern führen wird. Die Mitglieder der ABiD-Delegation werden unsere Erfahrungen gern und engagiert in Ihre Debatte einbringen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und verbleibe mit wehmütigen aber optimistischen Grüßen

Ihr Dr. Ilja Seifert.