Brüssel für Rollifahrer

Nicht nur ein teures Pflaster, sondern auch kein leichtes Pflaster

von: Heike Oldenburg

Bande Dessinée Mur BD Stripmuur Asterix et Obelix Bande dessinée (c) Olivier van de KerchoveIm September 2016 war es soweit: Wir haben uns einen langersehnten Traum erfüllt: Wir sind nach Brüssel gereist, in die Hauptstadt des franko-belgischen Comics. Es gibt ein Comicmuseum, das Belgische Comic-Zentrum. Wir hatten uns im Vorfeld den kleinen Falter „Ein Spaziergang mit Tintin“ sowie den „Comic-Spaziergang“ auf deutsch zusenden lassen. Außerdem war an diesem Wochenende die „Fête de la BD 2016“; BD steht für Bande Dessinée, also Comics bzw. Graphic Novels. Gespannt waren wir allemal.

Ein Last-Minute-Reiseangebot für zwei Nächte machte es für uns möglich. Im Vorfeld hatte ich gesehen, dass das Hotel nur einen halben Kilometer zu Fuß vom Comicmuseum entfernt lag. Die Anreise mit der Bahn verlief angenehm, mit nur einem Umstieg in Köln. Ich wusste vorher, dass mein deutscher Schwerbehindertenausweis mir keine freie Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Brüssel erlauben würde. 4,20 € für uns beide für eine einfache Fahrt. Überraschend war die recht breite Eingangsbox, durch die Kinderwagen und Rollstühle mit Ticket gut hindurch passen, die gute Versorgung mit Aufzügen und die deutlichen Ausschilderungen. An der Haltestelle De Brouckère ausgestiegen, verliefen wir uns jedoch in jene Eingangsbox in falscher Richtung. Als da nichts aufging, reichte ein Notanruf auf Englisch, und beide Seiten der Box wurden aufgemacht. Das NH Collection Hotel, fast am Platz gelegen, war schnell gefunden. Es erwies sich als gut berollbar. Unser Zimmer lag im fünften Stock. Es hätte ein rolligerechtes Zimmer gegeben, jedoch hatte ich keinen Bedarf angemeldet. Bande Dessinée Mur BD Stripmuur Brousaille Bande dessinée (c) Olivier van de Kerchove

Nach dem Einchecken sind wir noch ein wenig in der Innenstadt spazieren gegangen. Diese war überwiegend eine Fußgängerzone. Es war schon dunkel. Wir aßen lecker chinesisch. Mir fielen die schier endlos vielen Schuhgeschäfte auf. Unser weiterer Weg führte uns zum Grand Place, an dem viele imposant-hohe und massiv-teilvergoldete Fassaden zu sehen waren. Wegen des Bierfestes wurden wir beim Zugang wie am Flughafen sicherheitspolizeilich kontrolliert. Aus demselben Grund war es sehr laut und wir verließen den Platz schnell wieder. Es gab absolut keine öffentlichen Toiletten, mit Euroschlüssel sah ich keine einzige.

Als ein großes Hindernis erwies sich das Pflaster: Bordsteine von 2-15 cm hoch, alte und neue Pflastersteine in wildem, sinnlosem Wechsel, Absenkungen kaum vorhanden – eine Katastrophe für jede*n Rollifahrer*in und auch mit Rollator schwer zu gewältigen. Die Häuser sehr abwechselnd alt und modern nebeneinander, hell-brillant-glänzend-gepflegt neben verwaschen-potthäßlich-grau, sogar innerhalb desselben Straßenzuges. (O-Ton mein Begleiter: „Selbst die Hochhäuser scheinen hier hässlicher als anderswo.“) Witzig waren die Zebrastreifen: Die alten waren mit weißen Quadern in die Straßenoberfläche eingelassen, die neueren aufgemalt wie von zuhause bekannt. Und dann gab es Mischformen, beide zusammen an einer Stelle – ganz putzig! Auf den Straßen haben wir nie ein Piepen an den Ampeln vernommen, das Blinden anzeigt, dass es grün geworden sei. Leitrillen waren ebenfalls selten zu sehen. Die vorhandenen Hilfeangebote bildeten kein sinnvoll verbundenes Ganzes.

Manneken Pis (c)VISITBRUSSELS -E.DanhierDann gingen wir zum berühmten Manneken Pis. Diese kleine, nur 60 cm große Bronzefigur ist in Brüssel überall präsent, vom wenige Zentimeter großen als Bieröffner über 60 cm großen Schokoladen-Manneken bis zu über 1m großen, kitschigen Figuren aus grünem Plastik. Leider waren wir zu spät; der Manneken war bis 16 Uhr an dem Tag als Spirou, eine Comicfigur, gekleidet gewesen. Am Gitter steht die nächste Einkleidungszeit, es gibt über 800 Kostüme im Museum nah bei. Vor 1400 gab es viele solche Brunnen in der Stadt, die die Bevölkerung mit Wasser versorgten. A n dieser Stelle gab es ihn seit 1619. Dass heute so ein Hype um den Manneken gemacht wird, hat vermutlich damit zu tun, dass unsere Kultur so christlich-verklemmt durchdrungen ist und der hier offen durchgeführte Akt zwar allerorts passiert, aber eher im Stillen und seitlich hinterm Busch.

Gleich neben Manneken Pis ist ein Waffelgeschäft mit hübsch-mosaikem Boden. Die riesige Waffel kostete dann zwar überraschende 5,50 €, war aber lecker-lecker-lecker! Auf dem Rückweg sahen wir neben Polizeiautos sogar einen Panzer-Jeep! Und dabei soll mensch sich nun sicher fühlen. Sogar beim „Fête de la BD 2016“ am nächsten Tag standen Uniformierte mit Maschinengewehren herum – wohl, weil direkt am Parc de Bruxelles die Botschaften liegen.

Das Hotelzimmer war trotz der zentralen Lage wundervoll ruhig. Am Morgen hatten wir eine super-angenehme Überraschung: Das Frühstück ging bis 11 Uhr, am nächsten Morgen sogar bis 12 Uhr! Das kam uns sehr gelegen! Der Blick vom 9. Stock über Brüssel bestätigte den ungemütlichen Stil-Mischmasch der Bauten. Sogar das berühmte Atomium konnten wir in der Ferne sehen. Es gab neben glutenfreiem Brot die feine, typisch belgische Spezialität Craquelin, ein helles, stollenartiges Brot, mit Zuckerperlen besetzt.

Bande Dessinée Mur BD Stripmuur Lucky Luke (c) Olivier van de Kerchove

Überall in Brüssel sind an den Häuserwänden Comics vorzufinden.

Der Weg zum Comicmuseum war kurz, er führte uns über den schönen neoklassischen „Place des Martyrs“, wo der Revolution von 1830 gedacht wird. Das Comicmuseum ist über die Brasserie Horta rechts neben dem Haupteingang für Rollifahrer*innen zugänglich. Es gibt einen Fahrtstuhl nur für „uns“. An der Kasse wurde mein deutscher Schwerbehindertenausweis fraglos akzeptiert, auch mein „B“ für den Begleiter (Netz: „7,00€ – Freie Einfahrt für einen Begleiter“ – wie süß ist das denn?! Eintritt? Einfahrt?). Von der Behindertentoilette wurde uns nur erzählt, sie werde gerade renoviert.

Das über 100-jährige Gebäude, als Kaufhaus erbaut, besticht durch seine zierlichen Jugendstilelemente. Victor Horta hatte den vorherigen Fassadenbaustil mit einbezogen. Auf drei Stockwerken sind ständige Ausstellungen über die Erfindung sowie die Kunst des Comics. Der „Hergéraum“ ist dem Illustrator, Erfinder und Zeichner von „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ („Tintin et Milou“ auf französisch) gewidmet. Ich sah den Peyo-Raum mit Arbeiten des Erfinders der „Schlümpfe“. Von den modernen ausgestellten Zeichnern hat mir am besten eine Zeichnung von Ètienne Davodeau gefallen, auf der ein heutiger Comicsstripzeichner in einer Höhle eine kleine heutige Kuh neben den massiven Urbüffel des Neandertalers gezeichnet hat, der Neandertaler geht laut lachend davon! Dann gefielen mir die temporär ausgestellten Bildtafeln von Frank Pé, der eine zartgliedrige Frau – den Faun – neben Affen, Tigern etc., überwiegend im Plakatformat, zeichnete.

Von dem Comicmuseum machten wir uns auf den Weg in Richtung Parc de Bruxelles, wo die „Fête de la BD 2016“ stattfand. Auf dem Weg kamen wir an der riesigen Kathedrale de St. Michel und St. Gudula vorbei. Noch nie habe ich eine solch prächtige, riesige Barock-Kanzel (1669 geschnitzt) gesehen. Die Kanzel steht auf einem kurzen Baumstamm, mit zwei Aufgängen je links und rechts, unten mit der lebensgroß vollplastisch dargestellten Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies – was ich nun inhaltlich nicht ganz so toll finde. Das Gotteshaus ist sehr hoch und hat prächtige alte Fenster. Es sind viele kleine hübsche Einzelteile ausgestellt. An einer Stellwand ist sogar das Leben von „Le Bienheureux Ruusbroec“ im Mittelalter ausgestellt, als Comic 2004 von Chris Vandendriessche (Castor) gezeichnet.

Nun ging es am Regierungsviertel vorbei zum großen Parc de Bruxelles. Er ist ab 1776 aus einem ehemaligen Jagdgebiet zum heute größten innerstädtischen Park im barocken Stil unter Kaiserin Maria Theresia angelegt worden.

Fete de la BD 2013 Stripfeest

Die „Fête de la BD“ wird von der Stadt Brüssel seit 2010 jährlich organisiert. Dieses Jahr lag der Schwerpunkt der „Fête de la BD 2016“ auf Quebec, Kanada. Es gab vier lange Zelte, die entlang der breiten Wege aufgebaut waren. Alles war berollbar und kostenlos zugänglich. Eine berollbare Toilette gab es jedoch nicht. Wir haben den einen oder anderen Comicband erworben, denn die Zeichner/Autoren haben bei Erwerb ein Extrabild in den Comicband hinein gezeichnet. Tim war froh, dass er kein Französisch kann, sonst hätte er viel, viel mehr gekauft. Ich kann Französisch, das endete im Kauf von „Le Roi de la Mer“ von einem tunesisch-belgischen Zeichner – das Meer war zu toll gezeichnet! Ich liebe das Meer …! – sowie ein erotischer Band ohne Worte der Schweizerin Ulli Lust, ein Heftchen mit Kartoffeln aus dem All sowie einen schwarz-weißen Yakari-Band. Nach dem Durchqueren von zwei Zelten – wegen der vielen Besucher*innen war es laut – waren wir erschöpft und sind lieber zum Hotel zurück gefahren.

Beim Frühstück am Sonntag hörten wir von einer Rollstuhlfahrerin, dass das angeblich behindertengerechte Zimmer – im Netz als solches angegeben – höchstens behindertenfreundlich zu nennen sei. Zwar seien Toilette und abgesenktes Wachbecken okay, aber ohne Dusche könne mensch ein Hotelzimmer heute nicht mehr anbieten, fanden wir in Übereinstimmung.

Bande Dessinée Mur BD Stripmuur Quick et Flupke (c) Olivier van de Kerchove

So lustig kann eine schnöde Häuserwand aussehen.

Wir verließen das Hotel am Mittag und versuchten, in der Innenstadt einige der an Hauswände gemalten Comic-Figuren zu sehen. Das Highlight für mich war Yoko Tsuno von Roger Leloupe. Leider haben wir uns dann verlaufen, was in Stress ausartete, zumal ich nun die schwierigen Straßenverhältnisse mit Gepäck auf dem Rollator bewältigen musste. Ungute Überraschung: der Trambahnhof Anneessens, wo wir für die letzten zwei Stationen in die untergründig fahrende Tram einsteigen wollten, hatte keinen Lift vom Straßen- auf das Zwischenniveau! Erst die vierte angefragte Person half uns hinunter! Dort war zum Glück ein junger Mann sofort bereit, uns beim Ticketziehen am Automaten zu helfen. Glückselig, ohne auch nur eine einzige Tim-Figur an Hauswänden gesehen zu haben, erreichten wir den Bahnhof. In der Nähe des Gleises nach Aachen rief der Mann an der Gepäckabgabe netterweise unsere angemeldeten Mobilitätshelfer für uns herbei.

Auf der Rückfahrt machte ich Fotos von dem crème-hellen Betongerippe, das den Bahnhof von Liège überspannt. Wir entdeckten mehrfach, auch nach Passieren der Grenze, aufgemalte Superhelden und andere Figuren an Wänden. Ob diese Brüsseler Sitte um sich greifen wird in Europa?