Bundesteilhabegesetz passiert den Bundesrat

von: Berliner Behindertenzeitung

Lediglich die Länder Thüringen, Brandenburg und Berlin verweigerten dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung. Auf die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes heute im Bundesrat – es tritt somit am 01. Januar 2017 in Kraft – gab es erste Wortmeldungen. Die BBZ fasst diese hiermit zusammen.

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Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die GrünenWer in diesem Gesetz etwas finden möchte, das die Teilhabe behinderter Menschen stärkt, muss mit einer Lupe ausgestattet sein. Auf massiven Druck von Menschen mit Behinderungen und von Grünen in Bund und Ländern wurden einige der noch im Gesetzentwurf vorgesehenen Verschlechterungen für behinderte Menschen abgewendet. Das macht das Teilhabegesetz aber noch nicht zu einem guten Gesetz.

Auch die SPD erkennt mittlerweile an, dass die freie Wahl des Wohnorts mit dem Teilhabegesetz nicht gewährleistet wird. Menschen können weiterhin gezwungen werden, im Heim zu leben. Das widerspricht Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach eine unabhängige Lebensführung gewährleistet sein muss. Im Bereich der Freizeitgestaltung gibt es sogar Verschlechterungen gegenüber geltendem Recht. So ist es mit dem Teilhabegesetz möglich, behinderte Menschen zu zwingen, sich einen Assistenten in der Freizeit zu teilen. Dann muss sich beispielsweise eine Rollifahrerin damit abfinden, dass ihre Selbstbestimmung an ihrer Wohnungstür endet. Denn wenn eine Person ins Kino möchte, die andere aber zum Fußball, müssen sie sich künftig einigen. Das ist eine Zumutung.

Das Teilhabegesetz ist nicht der Abschied vom Fürsorgerecht, es ist Sozialhilfe in neuem Gewand. Auch das ehrenamtliche Engagement von Menschen mit Behinderungen wird geschwächt. Sind sie ehrenamtlich tätig, werden Assistenzleistungen künftig erst finanziert, wenn Freunde, Familie und Bekannte keine freiwillige und unentgeltliche Unterstützung leisten. Das wird es etwa einem Gehörlosen noch schwerer machen, sich in der Kommunalpolitik seiner Stadt aktiv einzubringen. Dazu benötigt er nämlich einen professionellen Gebärdensprachdolmetscher, dessen Finanzierung ihm nun noch leichter vorenthalten werden kann.

Nun kommt es darauf an, dass die Bundesländer und Kommunen dieses mangelhafte Gesetz im Sinne der Betroffenen umsetzen. Sie können im Rahmen ihrer Kompetenzen gegensteuern, wenn es zu Verstößen gegen die Behindertenrechtskonvention kommt. Klar ist, dass dieses Gesetz nur ein Anfang sein kann. Zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sind in Kürze weitere und größere Schritte nötig.

 

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Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag: „Das Bundesteilhabegesetz schafft keine umfassende und selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Zwar gibt es durchaus kleine Verbesserungen, aber auch in Zukunft können Menschen aus Kostengründen in Heime gezwungen werden, wenn die Unterstützung zu Hause zu teuer ist. Auch in Zukunft wird das Einkommen und Vermögen von Betroffenen auf Teilhabeleistungen angerechnet, und es gibt keine wesentlichen Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt“, sagt Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, mit Blick auf die heutige Zustimmung des Bundesrats zum Bundesteilhabegesetz. Werner weiter: „Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen wird durch das neue Gesetz weiterhin unter Kostenvorbehalte gestellt. Betroffene können künftig gezwungen werden, aus Kostengründen eine persönliche Assistenz mit anderen zu teilen. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen, das in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen festgeschrieben ist. Wir begrüßen daher, dass die Länder mit LINKER Regierungsbeteiligung dem Gesetz nicht zugestimmt haben.“

 

DSC00651Paritätischer: Protest zum Bundesteilhabegesetz hat viel bewegt

Eine gemischte Bilanz zieht der Paritätische Gesamtverband angesichts des heute im Bundesrat verabschiedeten Bundesteilhabegesetzes. Positiv zu bewerten sei, dass man durch den gemeinsamen Protest von Menschen mit Behinderung, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Einrichtungen und Verbänden im Laufe des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens deutliche Nachbesserungen erreichen und wesentliche Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen verhindern habe können. Positiv seien auch Verbesserungen im Bereich der Bildung, bei den Entgelten für Beschäftigte in Werkstätten oder bei den Vermögensfreibeträgen zu nennen. Jedoch erfülle das neue Bundesteilhabegesetz nach wie vor nicht die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, kritisiert der Verband.

„Das Bundesteilhabegesetz ist noch immer kein gutes Gesetz, aber wir sind erleichtert, dass viele Regelungen, die die Situation von Menschen mit Behinderung verschlechtert hätten, in letzter Minute abgewendet werden konnten. Dabei spielte der Zusammenhalt von Betroffenen, Angehörigen, Bezugspersonen und Verbandsvertretern eine herausragende Rolle. Der breite gemeinsame Protest und die intensive Aufklärungsarbeit haben wirklich etwas bewegt“, so Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes.

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Dominik Peter (Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands und Stv. Vorsitzender der Parität – Landesverband Berlin).

„Dabei spielte die Protestveranstaltung am 04. Mai eine zentrale Rolle, die der Berliner Behindertenverband mit anderen Organisationen auf die Beine stellte. Von ihr ging der Startschuss aus, der viele weitere Aktionen folgten. Das Jahr 2016 hat gezeigt, dass die Behindertenbewegung sehr wohl mobilisieren kann. Durch den Druck konnten immerhin über 60 Änderungen am Gesetz bewirkt werden“, so Dominik Peter (Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands und Stv. Vorsitzender der Parität – Landesverband Berlin).

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte in den vergangenen Wochen immer wieder in verschiedenen Städten gemeinsam mit anderen Organisationen und Betroffeneninitiativen im Rahmen von Protestaktionen auf die Gefahren der vorliegenden Gesetzesentwürfe und den Nachbesserungsbedarf beim BTHG aufmerksam gemacht. Allein in der Zeit von September bis November 2016 haben rund 20.000 Menschen ihren Protest bei Demonstrationen und Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen in verschiedenen Städten Deutschlands kundgetan. Unzählige Gespräche mit politisch Verantwortlichen und an die hunderttausend Postkarten an Bundessozialministerin Andrea Nahles haben zur Aufklärung beigetragen.

Der Paritätische appelliert an die Politik, das Bundesteilhabgesetz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in der kommenden Legislaturperiode umfassend weiterzuentwickeln. „Auf dem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe für alle Menschen liegt noch immer ein großes Stück Strecke vor uns“, so Rosenbrock. Dringenden Handlungsbedarf sieht der Wohlfahrtsverband unter anderem nach wie vor bei der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege sowie der umfassenden Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts von Menschen mit Behinderung auch im Freizeitbereich.