Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) zieht erste Bilanz

von: Berliner Behindertenzeitung

1Der Deutsche Bundestag hat in zweiter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz beschlossen. Die Bundesregierung wollte die Reform der Eingliederungshilfe nutzen, um Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu ermöglichen. Nach dem vorbildgebenden Beteiligungsprozess zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens haben sich die Erwartungen auf substanzielle Verbesserungen jedoch nicht erfüllt. Der Paradigmenwechsel von der Fürsorge zu einem modernen Teilhaberecht bleibt aus.

Besonders bitter für den DBSV: Der Gesetzgeber hat die historische Chance für die Etablierung echter Nachteilsausgleiche verpasst. Es ist nicht gelungen, ein bundeseinheitliches gerechtes Blindengeld zu schaffen. „Blindsein ist in ganz Deutschland gleich – das Blindengeld ist es weiterhin nicht“, stellt DBSV-Präsidentin Renate Reymann ernüchtert fest.

Die im Sozialhilferecht geregelte Blindenhilfe wird sogar zu einer Teilhabeleistung zweiter Klasse degradiert. Die verbesserten Regelungen zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen, wie sie künftig für die Eingliederungshilfe gelten, kommen für die Blindenhilfe nicht zum Tragen. „Die für alle Sozialhilfeleistungen vorgesehene Erhöhung des Vermögensfreibetrages auf 5.000 Euro ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, findet Renate Reymann und kündigt an: „Wir werden uns auch weiterhin für einen zeitgemäßen Nachteilsausgleich stark machen, um diese Ungerechtigkeit zu beenden.“

68 Änderungsanträge der Koalitionsfraktion sorgen nach dem Beschluss im Bundestag dafür, dass einige der drohenden Härten des Gesetzes gemildert werden. So bleibt es zunächst bei der bisherigen Rechtslage für den Zugang zur Eingliederungshilfe. Sehbehinderte Menschen müssen nicht mehr befürchten, dass ihnen die notwendige Unterstützung, zum Beispiel die Hilfsmittelversorgung für ein Studium, vorenthalten wird, weil sie als „nicht behindert genug“ ausgemustert werden. Die Regelungen für neue Zugangskriterien sollen erprobt und bis 2023 in einem eigenen Gesetz verabschiedet werden. „Hier hat sich unser Abwehrkampf wirklich gelohnt“, kommentiert Renate Reymann.

Erfolgreich war auch der beharrliche Kampf um die Teilhabe an Bildung. So konnte der DBSV quasi in letzter Minute erreichen, dass sehbehinderte und blinde Schüler beim Besuch der gymnasialen Oberstufe weiterhin Anspruch auf Eingliederungshilfe haben. Durch die Wahl einer speziellen Internatsschule drohen keine finanziellen Nachteile mehr. Es wird zudem abgesichert, dass ein behinderungsbedingter Studienwechsel möglich ist.

Insgesamt wurde das Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention, das Menschenrecht auf uneingeschränkte, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe umzusetzen, längst nicht erreicht. Allenfalls ist eine neue Basis geschaffen worden, auf der dringend notwendige Weiterentwicklungen erfolgen müssen. Dies betrifft unter anderem die Einführung eines Bundesteilhabegeldes, die vollständige Abschaffung von Regelungen zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen und den Ausbau von Teilhabeleistungen im Bildungsbereich, um tatsächliche Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen zu erreichen.

„Die zahlreichen Proteste und die intensive politische Arbeit der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe im Bündnis mit vielen anderen Verbänden und Aktivisten haben sich gelohnt. Mit dem gleichen Elan müssen wir unser Engagement fortsetzen, damit Behindertenpolitik ausschließlich am Ziel der selbstverständlichen und uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe ausgerichtet wird und Unterstützungsleistungen endlich als echte Nachteilsausgleiche ausgestaltet werden“, ermuntert Renate Reymann abschließend.

Am 16. Dezember steht die Verabschiedung durch den Bundesrat an, bevor das Bundesteilhabegesetz ab 2017 stufenweise in Kraft treten kann.