Ein Jahr danach

Was treibt die Politik nach der Landtagswahl in Berlin an?

von: Ulrike Pohl und Dominik Peter

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Den Kopf in den Sand stecken akzeptieren wir nicht. Ulrike Pohl wollte von den behinderten- und sozialpolitischen Sprecherinnen und Sprechern wissen, welche Projekte sie in dieser Legislaturperiode im Land Berlin verwirklichen wollen und welche Themen ihnen wichtig sind.

 

 

 

Inklusiver Arbeitsmarkt oder bezahlbare barrierefreie Wohnungen sind Schlagwörter, die behinderte Menschen in Berlin massiv bewegen. Ulrike Pohl – Fachreferentin des Paritätischen Landesverbands Berlin – hat bei den Parteien nachgefragt. Wo sehen sie Nachholbedarf und was liegt den Parteien auch nach der Wahl noch am Herzen. Die Ergebnisse der Pohl-Gespräche, geben wir hier gemeinsam wider.

Vor rund einem Jahr wurde im Land Berlin gewählt. Die bis dahin regierende Große Koalition – bestehend aus SPD und CDU – wurde abgewählt. Nunmehr regiert ein Dreierbündnis bestehend aus SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen das Land Berlin. Die CDU leckt seither ihre Wunden (schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten) und die FDP überrascht durch vielfältigste Aktionen und zahlreiche Anfragen. Sie mausert sich zur führenden Oppositionspartei. Naja, da wäre auch noch die AfD – doch die Partei blieb uns Antworten auf unsere Fragen schuldig.

 

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Ulrike Pohl (vorne links) ist Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband – Landesverband Berlin.

Bereich Inklusives Leben

Hier wollten wir wissen, „Welche Verwaltungsgrenzen müssen aufgehoben werden“, dass inklusives Leben Realität wird. Hier die Antwort der Partei Die Linke: „Wir sind insgesamt der Ansicht, dass Behindertenpolitik sehr viel mehr ressortübergreifend gedacht werden muss, als dies bisher der Fall ist. Wir müssen leider feststellen, dass Politik für Menschen mit Beeinträchtigung eher als Anhängsel der Sozialpolitik betrachtet wird. Hier braucht es einen umfassenden Sinneswandel“.  Dafür, dass es in Berlin noch viel zu selten ressortübergreifende Zusammenarbeit gibt, wenn es um die Rechte und Belange von Menschen mit Behinderungen geht, dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Im Koalitionsvertrag steht, dass InklusionsTaxis im Land Berlin umgesetzt werden sollen, also barrierefreie Taxen. In diesem Fall müsste dieses Projekt im Ressort von Frau Günther – Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz – oder/ und in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe mit Senatorin Frau Pop umgesetzt werden. Schlussendlich landete das Projekt bei Sozialsenatorin Elke Breitenbach.

Ulrike Pohl, Fachreferentin des Paritätischen Landesverbands Berlin, geht es auch um mehr inklusive Freizeitangebote. „In einer Gesprächsrunde zur Weiterführung eines Aktion-Mensch-Projektes fragte zum Beispiel eine Sozialstadträtin: ‚Aber Sie arbeiten nicht nur mit Menschen mit Behinderungen ?‘ ‚Nein, das Projekt ist inklusiv.‘ Eine Prüfung der Finanzierbarkeit hat nun ergeben, dass ein inklusiv und intergenerativ arbeitendes Projekt in keine Schublade passt und deshalb nicht weiter gefördert wird. Um im Bild zu bleiben: wir brauchen entweder neue Schubladen, um inklusives Leben zu ermöglichen oder am besten gar keine mehr.“

Bereich Gesundheit

Interessant bei diesem Themenfeld ist, dass sich alle gesprächsbereiten Fraktionen dafür ausgesprochen haben, dass die besonderen Bedürfnisse und Bedingungen von Menschen mit Behinderungen mehr als bisher Teil der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden werden müssen. Lars Düsterhöft (SPD) schrieb z. B.: „Sowohl Ärzte, als auch das ärztliche Fachpersonal, Angehörige von Pflegeberufen müssten durch Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen entsprechend geschult und für deren Rechte sensibilisiert werden. Es muss für entsprechende Ressourcen gesorgt werden – Zeit, ausreichend Personal, Räumlichkeiten usw. Vielleicht können Anreizstrukturen geschaffen werden, wie besondere Vergütungen für die Bereitstellung von spezifisch qualifizierten Personal“. Aber auch die Linke interessierte sich für bereits vorhandene Curricula zur Sensibilisierung von Ärztinnen und Ärzten (z. B. von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben).

Die Idee, Anreizstrukturen zu schaffen finden wir prima, nun braucht es konkrete Gespräche mit den Gremien der Krankenkassen bzw. der Gemeinsamen Selbstverwaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung, um den Konjunktiv „müsste“ in spürbare Verbesserungen im Alltag der Menschen mit Behinderungen umzuwandeln.

Bemerkenswert war an dieser Befragung auch, dass bis auf die FDP-Fraktion niemand besondere Benachteiligungen von bestimmten Personengruppen im Bereich Gesundheit wahrnimmt. Hier sind mehr Gespräche z. B. mit Angehörigen von Menschen, die in Einrichtungen leben, notwendig.

Bereich Arbeit

Mehrere Fraktionen – hervorzuheben sind hier die Fraktionen von Bündnis 90/ Die Grünen, aber auch von CDU und FDP sowie Die Linke – sprechen sich für einen fraktionsübergreifenden Austausch zum Thema Arbeit für Menschen mit Behinderungen aus. Wir – die Parität und der Berliner Behindertenverband – befürworten das und sind gern zu Gesprächen bereit.

Positiv erwähnt sei an dieser Stelle, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Fraktionsmitarbeiterin sozialversicherungspflichtig angestellt hat, die früher Werkstattbeschäftigte war. Es geht also, wenn viele wollen.

Entbürokratisierung der Angebote des Integrationsamtes und Arbeitsagenturen für Arbeitgeber und bessere Veröffentlichung positiver Beispiele waren weitere Gesprächsthemen in mehreren Fraktionen.

Bereich Persönliche Assistenz und Persönliches Budget

In der Opposition lässt sich vieles fordern, doch die Antworten der FDP waren ein Paukenschlag und ein Affront gegen so manchen Akteur in der Stadt: „In Berlin ist die Sozialindustrie besonders stark. Dort hat man kein Interesse an Eigenverantwortung der Betroffenen. Es ist für den Anbieter besser, wenn sein Kunde nicht auswählen kann, sondern mit dem (preisintraparenten) Komplettpaket entmündigt wird. Zudem fehlt es der Verwaltung an Erfahrung und Sicherheit mit solchen Anträgen. Aus Unsicherheit und Kontrollverlust resultiert dann Ablehnung – der Senat verweigert hier seit Jahren aktuelle Handreichungen für die Bezirke“.

Bereich Wohnen

Bezahlbarer und barrierefreier Wohnraum ist eines der ganz heißen Themen in Berlin. Hier haben uns die klaren Aussagen der FDP am meisten (positiv) überrascht: „Barrierefreiheit muss der Normalstandard werden, denn kein Mensch braucht Stufen und Hindernisse. Berlin braucht wesentlich mehr bezahlbaren Wohnraum, gerade auch barrierefreien. Da hilft nur Neubau und privates Engagement und eine Vorbildfunktion der Städtischen Wohnungsbauunternehmen. Zudem muss die Rückbaupflicht für behindertengerechte Einbauten beim Auszug wegfallen. Es ist angesichts fehlender Angebote Unsinn, wenn mit öffentlichen Mittel Hilfen finanziert werden, die dann entfernt werden müssen“.

Ulrike Pohl: „In allen Gesprächen habe ich auf die schwierige Schnittstelle Pflege und Eingliederungshilfe hingewiesen und worauf bei der Umsetzung der neuen Gesetze (Bundesteilhabegesetz und Pflegestärkungsgesetz) besonders zu achten ist:

  • Keine Verschlechterung für die Menschen, die in Einrichtungen und Wohngemeinschaften leben
  • Keine Verschlechterungen für Menschen mit hohem Assistenzbedarf“, so Ulrike Pohl.

Es bleibt daher spannend, wie sich gerade dieser Bereich zukünftig in Berlin entwickeln wird.

Das Pohl´sche Fazit: „Es gibt mehr Gemeinsamkeiten in den Ansichten der unterschiedlichen Parteien. Das sollte doch eine gute Grundlage sein für mehr fraktions- und ressortübergreifende Zusammenarbeit!“

FW V3.12

Das sind die behindertenpolitischen Sprecher

(in alphabetischer Reihenfolge der Parteinamen)

  • AfD: Herbert Mohr; Sprecher für Gesundheit und Soziales
  • Bündnis 90/Die Grünen: Fatos Topac; Sprecherin für Sozial- und Pflegepolitik
  • CDU: Maik Penn; Sprecher für Soziales
  • Die Linke: Stefanie Fuchs; Sprecherin für Soziales, Pflege, Behinderte und Senioren
  • FDP: Thomas Seerig; Sprecher für Soziales, Behinderten- und Pflegepolitik
  • SPD: Lars Düsterhöft; Sprecher für Menschen mit Behinderungen