Es bedarf einer soliden Datenbasis

Studieren mit Beeinträchtigung – bundesweite Befragung startet

von: Siegurd Seifert

Side view of a male student in wheelchair at the counter in college library

Bild: Fotolia.

Beatrix Gomm vom Studentenwerk Berlin ist besorgt. Sie gibt Studierenden mit Beeinträchtigung die nötige Unterstützung. „Im Gegensatz zu anderen Bundesländern geht es unseren Studierenden vergleichsweise gut“, erklärt sie. Meistens vermittelt sie Studienassistenz, das heißt Gebärdendolmetscher, Schriftdolmetscher, technische Hilfsmittel für sehbehinderte Studenten. In anderen Bundesländern müssen die Studenten sich das über die Eingliederungshilfe organisieren, aufwendige Ämterwege sind das Resultat. In Berlin wird die Integrationshilfe – so heißt das hier – über das Studentenwerk organisiert. Auf dieses Berliner Modell ist Gomm stolz. Allerdings sieht das neue Bundesteilhabegesetz das anders. Bundeseinheitlich soll zukünftig auch in Berlin alles über die Eingliederungshilfe organisiert werden.

Passende Hilfe verlangt genaues Zahlenmaterial

Diese Woche startet die zweite Auflage der bundesweiten Online-Studierenden-Befragung „beeinträchtigt studieren“ („best2“) des Deutschen Studentenwerks (DSW) und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Die erste dieser Befragungen fand im Sommer 2011 statt; damals beteiligten sich rund 15.000 betroffene Studierende. „best2“ wird wie die Vorgängerstudie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Studierende mit Behinderung und chronischen Krankheiten an mehr als 150 Hochschulen haben jetzt zehn Wochen Zeit, Auskunft zu geben: Welche Herausforderungen müssen sie bewältigen? Wie gut greifen die Nachteilsausgleiche? Welche Unterstützungsangebote sind hilfreich? Welche Rolle spielen Lehrende sowie Kommilitoninnen und Kommilitonen?

Nach den Ergebnissen der 20. Sozialerhebung haben rund sieben Prozent der Studierenden eine Beeinträchtigung, die sich studienerschwerend auswirkt. Deshalb werden seit dieser Woche mehr als 700.000 Studenten – mit oder ohne Beeinträchtigung – von ihren Hochschulen per E-Mail angeschrieben. Wer keine studienerschwerende Beeinträchtigung hat, kann die Anfrage ignorieren. Wer als Studentin oder Student eine chronisch-somatische Krankheit, eine psychische Erkrankung, eine Sinnes- oder körperliche Beeinträchtigung, eine Teilleistungsstörung wie Legasthenie oder eine andere Beeinträchtigung hat, wird eingeladen, an der Befragung teilzunehmen.

„Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen müssen in besonderer Weise bedacht und unterstützt werden“, sagt Bundesbildungsministerin Johanna Wanka. „Dazu bedarf es einer soliden Datenbasis, auf die die Hochschulen und die Politik gleichermaßen angewiesen sind. Wir müssen die Lebenssituation von Studierenden mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten besser verstehen, deshalb fördert das BMBF auch diese zweite Befragung.“

Der Präsident des Deutschen Studentenwerks, Dieter Timmermann, fordert Studierende mit Beeinträchtigungen auf, sich an “best2“ zu beteiligen: „Indem Sie an der Befragung teilnehmen, liefern Sie die Grundlage für unsere politische Lobbyarbeit im Interesse aller Studierenden mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Sie helfen, Ihre individuelle Situation und auch jene Ihrer Mitstudierenden zu verbessern. Machen Sie mit!“

Monika Jungbauer-Gans, wissenschaftliche Geschäftsführerin des DZHW begrüßt die Studierendenbefragung best2: „Sind unsere Hochschulen barrierefrei? Wer könnte besser dazu Auskunft geben, als die Studierenden selbst? Ich hoffe, dass viele Studierende mit sichtbaren und nicht sichtbaren Beeinträchtigungen die Chance nutzen, um ihre Erfahrungen mit Studium und Hochschule weiterzugeben. Denn Hochschulen und Politik brauchen aktuelle Daten, um eingeleitete Maßnahmen zu überprüfen und neue Handlungsfelder zu erkennen.“

Ergebnisse der Sozialerhebung 2012

Die letzte Sozialerhebung fand 2011 statt und wurde 2012 veröffentlicht. Unter dem Titel „Gesundheitliche Beeinträchtigungen“ wurde die Studien- und Lebensqualität der Studierenden analysiert. Die Frage, ob eine Einschränkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorliegt, wurde anhand der Erfahrungen der Betroffenen erfasst und bezogen sich ausschließlich auf Beeinträchtigungen im Studium.

Auffallend ist, dass die Studie durchgehend von gesundheitlichen Beeinträchtigungen spricht: „Eine gesundheitliche Beeinträchtigung stellt Studierende häufig vor besondere organisatorische Herausforderungen“. Selbst die Kapitelüberschrift „Gesundheitliche Beeinträchtigung“ bestätigt dies. In der Aufzählung der Behinderungsarten (siehe nebenstehende Grafik) werden Behinderungen aufgeführt, die durchaus keine gesundheitliche Beeinträchtigungen sind.

Die neue Studie ist in Arbeit, sie soll 2018 veröffentlicht werden. Vielleicht wäre es ratsam, diesmal in die Auswertegruppen tatsächliche Fachleute, nämlich Menschen mit Behinderung aufzunehmen.

Beatrix Gomm schlägt sich derweil mit den Alltagsproblemen herum, zum Beispiel mit viel zu wenigen Gebärdendolmetschern, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fakultäten.

 

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