Das diesjährige Jubiläum nimmt die BBZ zum Anlass und lässt Protagonisten aus dieser Zeit zu Wort kommen. Zum Bereich „Selbstbestimmtes Leben“ schreibt diesmal Matthias Vernaldi.
Matthias Vernaldi (1959) ist wegen einer Muskelkrankheit 24 Stunden auf Assistenz angewiesen und lebte in der DDR in einer Landkommune, die er selbst mit gegründet hatte. Seit 1995 lebt Vernaldi in Berlin. Nach einem Theologiestudium als Prediger, später als Tarotkartenleger, Autor, Öffentlichkeitsarbeiter, Redakteur von „mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen“ und Vorstand des Assistenzvereins ambulante dienste e.V., gründete er 2000 die Initiative „Sexybilities – Sexualität und Behinderung“. Seit 2002 ist Herr Vernaldi Mitglied des Landesbeirates für Menschen mit Behinderungen.
Politisch nicht gewollt
Mitte der Neunziger zog ich endgültig aus der Thüringer Landkommune, in der ich fast 20 Jahre gelebt hatte, aus und ging nach Berlin in eine eigene Wohnung. Ich konnte hier selbstständiger leben, weil ich meinen Hilfebedarf rund um die Uhr finanziert bekam. Die Leute, die meine körperlichen Einschränkungen ausglichen, wurden für ihre Arbeit bezahlt. Das machte mich stärker, weil ich nicht mehr das Gefühl haben musste, ausschließlich auf ihren guten Willen angewiesen zu sein. Ich wurde Kunde beim Assistenzdienst ambulante dienste e.V. Hier konnte ich mir die Leute, die bei mir arbeiteten, aussuchen und vorgeben, was konkret getan werden musste. Einige von denen, die mir bisher unentgeltlich geholfen hatten, erhielten so eine feste Vollzeitstelle. Auch neue Assistenten kamen hinzu.
Doch die neue Freiheit war bedroht. 1995 trat die gesetzliche Pflegeversicherung in Kraft. Das hatte im ambulanten Bereich den Wegfall der Bewilligung und Abrechnung nach Stunden zur Folge. Stattdessen gab es konkret vorgegebene Verrichtungen. Assistenz konnte unter diesen Bedingungen nicht mehr geleistet werden. Es hätte etwas anderes mit Ämtern und Versicherungen abgerechnet werden müssen – die feststehenden Leistungskomplexe eben – als das, was erbracht wurde – die vielfältigen, individuellen, alltäglichen und natürlich auch pflegerischen Hilfen, die in ihrer Gesamtheit gar nicht beschreibbar sind. Das wäre Abrechnungsbetrug gewesen.
Ein Aktionsbündnis aus assistenzabhängigen Menschen, Selbsthilfevereinen, Assistenzdiensten und solidarischen Einzelpersonen entstand: Das Bündnis für selbstbestimmtes Leben Behinderter. Wir besetzten den Paritätischen Wohlfahrtsverband, die Landesgeschäftsstelle der AOK und die Senatsverwaltung für Soziales und Gesundheit. Wir organisierten Demos und Kundgebungen, kamen mit Verwaltungsbeamten auf Landesebene und der Staatssekretärin ins Gespräch und versuchten, die Senatorin zu erreichen.
Tatsächlich erzwangen wir so einen Prozess, dessen Ergebnis der Leistungskomplex 32 „Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung“ war. Es oblag in der Hauptsache uns, den Betroffenen, ihn zu formulieren. Selbst an den Verhandlungen zum Entgelt nahmen wir teil – wenn auch ohne Mandat. Bis heute liefert er die Grundlage für Gewährung und Finanzierung persönlicher Assistenz im Land Berlin.
In dieser Zeit wurde das Landesgleichberechtigungsgesetz vorbereitet. Die Betroffenenseite fand sich im Netzwerk Artikel 3 zusammen. Für das Bündnis für selbstbestimmtes Leben Behinderter war es wichtig, dass im Gesetz Assistenz genannt wurde. Es gelang nicht, dies umzusetzen.
Ich wertete das als deutliches Signal, dass eine solche Hilfeform, die schwerbehinderte Menschen in die Lage versetzt, ähnlich autonom über ihren Alltag, ihren Körper und ihre Biografie zu verfügen als hätten sie keine Behinderung, politisch nicht gewollt war. Ich sah mich in Zukunft auch weiterhin Aktionen vorbereiten und Demos organisieren, damit das kostbare Gut umgesetzter Selbstbestimmung uns nicht genommen wird.
So ist es auch gekommen. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass die Aktionen mittlerweile wirkungslos wären, gäbe es nicht die Ebene unserer politischen Mitwirkung, die sich damals mit der Installation des Leistungskomplex 32 in neuer Qualität manifestierte. Diese Mitwirkung bekam durch das Landesgleichberechtigungsgesetz eine viel größere Bedeutung und ein stärkeres Gewicht vor allem in Form der Stärkung des Amtes des Landesbeauftragten und der Schaffung des Landesbeirates, dem ich für das Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen als Vertreter des Netzwerkes Artikel 3 angehöre.
Spätestens jetzt, nachdem im Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention persönliche Assistenz ausdrücklich als Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung genannt ist, stünde dem Landesgleichberechtigungsgesetz eine Angleichung gut an und würde im Land Berlin die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung schwerbehinderter Menschen erhöhen.