Gratulation und Hochachtung!

von: Martin Marquard

xDer Berliner Behindertenverband e.V. (BBV) besteht 25 Jahre und ebenso lange erscheint monatlich regelmäßig seine Zeitung – die Berliner Behindertenzeitung (BBZ)! Eine großartige Leistung!

 

 

Neue Freiheit nach der Wende

Die Gründung des BBV im Januar 1990 war ein Ergebnis der Wende 89/90. Endlich konnten sich die Menschen mit Behinderung in Ostberlin und in der (noch) DDR uneingeschränkt in eigenen Organisationen zusammenschließen und ihre Interessen selbst vertreten. Dies war dort zuvor körperlich, psychisch oder geistig behinderten Menschen nicht erlaubt und wäre als feindlicher Akt oder illegale Gruppenbildung betrachtet worden. Behinderung und „sozialistisches Menschenbild“ – das passte eben nicht zusammen. Dass sich Menschen mit Behinderung trotzdem organisierten – nicht in Selbsthilfegruppen, sondern z.B. in Literaturzirkeln, hat mir immer besonders imponiert. Vor allem auch, weil sie sich keineswegs den Mund verbieten ließen und fleißig Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden der DDR schrieben, in denen sie sich z.T. erfolgreich etwa für den Bau von barrierefreien Wohnungen einsetzten!

Ost-West-Gegensätze

Der BBV war schnell zum Motor einer sich rasant entwickelnden neuen Behindertenszene im Osten geworden – ein Prozess, den wir im Westen mit Aufmerksamkeit, Spannung und Freude verfolgten. Er brachte jedoch auch Gegensätze zwischen Ost und West hervor, die auch nach einem Vierteljahrhundert noch nicht ganz überwunden sind. Was ist damals schiefgelaufen?
Als Westberliner Rollstuhlfahrer, der von September 1990 bis April 2000 Vorstandsmitglied des (Ost-)Berliner Behindertenverbandes und zugleich einer der Sprecher des (Westberliner) Spontanzusammenschlusses Mobilität für Behinderte (Spontis) war, konnte ich das Aufeinandertreffen der beiden Behindertenbewegungen aus West und Ost hautnah miterleben. Während wir in Westberlin zu dieser Zeit schon seit mehreren Jahren auf die Straße gingen und lautstark gegen Bevormundung und gesellschaftliche Ausgrenzung protestierten, waren wir über die Entwicklung in der DDR gleich nach der Wende dann doch etwas überrascht. Die Menschen mit Behinderung, die ja auch Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung waren und mit ähnlichen Protestformen für sich das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstvertretung erkämpft hatten, begannen nun geschäftig – fast bürokratisch – mit dem Gründen von Vereinen, Schreiben von Satzungen und Statuten oder Wählen von Vorständen usw.
Das war uns völlig fremd. Wir waren eine spontane basisdemokratische Behinderten-Initiative mit monatlichem Plenum als einziger Struktur, das öffentlich tagte und bei dem alle Interessierten mitreden und mitbestimmen konnten. Natürlich hofften wir trotzdem, dass wir zusammen neue Perspektiven für eine gemeinsame Behindertenpolitik in Berlin eröffnen könnten.

 

Ost-West-Zusammenarbeit

Kontakte gab es schon bei der Gründungsversammlung des BBV Mitte Januar 1990. Mit einer ersten gemeinsamen Aktion in Ostberlin protestierten wir am 25. Januar 1990 gegen die Uraufführung eines DEFA-Filmes mit Behindertenthema vor dem damals mit Rollstuhl unzugänglichen Kino „International“. Oder im Sommer 1990 beteiligte sich eine große Zahl Betroffener aus Ost und West an einer Demonstration des BBV „Für Selbstbestimmung und Würde – Aufrecht ins vereinte Berlin!“ Das funktionierte also trotz unterschiedlicher Organisationsformen gut.
Auf dem 2. Verbandstag des BBV am 8. September 1990, an dem ich als Gast für die Spontis teilnahm, fand ich mich am Ende als gewähltes Mitglied des neuen Vorstandes wieder. Es könnte nicht schaden, hieß es, einen Wessi im Vorstand zu haben. Einige Mitglieder sahen zu dieser Zeit den BBV mehr in der Rolle eines Sozialverbandes mit der Hauptaufgabe, seinen Mitgliedern bei der Überleitung in das neue Rechts- und Sozialsystem West behilflich zu sein. Dabei sollte auch ich meine Erfahrungen einbringen. Viele Mitglieder bangten damals zu recht z.B. um ihren geschützten Arbeitsplatz, ihre Invalidenrente oder ihre Wohnung. Aber auf die Sorgen, die mit der beginnenden Abwicklung der alten DDR zusammen hingen, hatte ich natürlich auch keine Antworten. Ich nahm die Wahl trotzdem an und sah darin eine Chance zum Brückenschlag zwischen den Betroffenen in Ost und West – zum gemeinsamen Kampf für Selbstbestimmung, Gleichstellung und Barrierefreiheit. Ich stellte mir vor, mit dem BBV zusammen die erprobten und bewährten Protestformen der Spontis auf ganz Berlin auszudehnen. Das ging jedoch, so hatte ich bald das Gefühl, vielen dann doch zu weit – vielleicht, weil sie bei der gerade erst gewonnenen Freiheit – z.B. zur Gründung von eigenen Vereinen – nicht gleich schon wieder Front gegen den Staat machen wollten? Vielleicht aber auch, weil ihnen diese Protestformen zu aktionistisch waren.

 

Keine gemeinsame Organisation

Trotzdem war ich davon überzeugt: Wenn wir uns in Ost und West politisch einig sind, würden wir sicher nach und nach auch organisatorisch zusammenwachsen.
BBV und Spontis entwickelten dann in der Folgezeit auch gemeinsame politische Forderungen und organisierten zahlreiche Veranstaltungen, Demonstrationen und andere Aktionen.
Sehr eng war die Zusammenarbeit im Ausschuss zur Formulierung der „Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt“ 1991/92. Gemeinsam traten wir für ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz ein – gegen die Einführung der Pflegeversicherung und des Modulsystems. Spontis und BBV veranstalteten mehrere „Gesamtberliner Behindertenplenen: Aufbau ohne Sozialabbau!“ oder gründeten 1992 das „Berliner Bündnis“ zum 5. Mai, dem europaweiten Protesttag der Menschen mit Behinderung – usw.
Obwohl die inhaltliche Übereinstimmung also groß war und auf beiden Seiten der Wunsch nach enger Zusammenarbeit bestand, führte dennoch kein Weg zu einer gemeinsamen Organisation. Zwar traten im Laufe der Zeit etliche Spontis dem BBV bei. Auf der anderen Seite nahmen Mitglieder des BBV – auch des Vorstandes – über lange Zeit regelmäßig am Plenum der Spontis teil. Dennoch: Eine zwischenzeitlich einmal gehegte Vorstellung von mir, dieses zugleich zum öffentlichen Mitglieder-Plenum des BBV zu machen, begrub ich schnell, nachdem ich allein schon bei der bloßen Andeutung einer solchen Idee auf totale Ablehnung stieß – und das auf beiden Seiten.

 

Ost-West-Vorbehalte – ein Erklärungsversuch

Auch wenn BBV und Spontanzusammenschluss in der praktischen Politik relativ gut harmonierten, blieben gegenseitige Vorbehalte hartnäckig bestehen. Zunächst muss man berücksichtigen, dass der BBV in einer Zeit gegründet wurde, als noch gar nicht klar war, wie es mit den beiden deutschen Staaten weiter gehen würde. Die Bürgerrechtsbewegung ging anfangs vom Weiterbestand einer demokratisch-reformierten DDR mit engen Beziehungen zur BRD aus. So erklärt sich auch die Gründung des Allgemeinen Behindertenverbandes der DDR im März 1990 als Dachverband der neuen regionalen Behindertenorganisationen in Ostdeutschland. Auch der BBV wurde Mitgliedsverband, was hieß, dass er sich als Interessenvertretung der Ostberliner Menschen mit Behinderung verstand, nicht der von Gesamtberlin. Niemand rechnete zu dieser Zeit mit einer schnellen Vereinigung  und schon gar nicht mit dem Beitrittsbeschluss der Volkskammer vom 22. August 1990, mit dem alle Vorstellungen von einem „dritten Weg“, zu dem sich die beiden deutschen Staaten einmal hätten zusammenfinden sollen, zunichtewurden. Auch im Westen bedauerten viele die Selbstaufgabe der DDR und hatten auf einen Neuangang in einem anderen Deutschland gehofft.
Man kann diese Entwicklung beklagen oder nicht – mit einer Umbenennung des DDR-Dachverbandes einfach in „Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland“ (ABiD) war es jedenfalls nicht getan. Der ABiD war und ist auch heute noch ein allein in den neuen Bundesländern agierender Verband, der das Profil eines separaten Ostverbandes nicht loswird, was natürlich auch auf seine Mitgliedsverbände – den BBV eingeschlossen – abfärbt. Ich denke, dass der ABiD sich stärker den heutigen Realitäten anpassen und sich für alle Menschen mit Behinderung öffnen muss. Dazu gehört aus meiner Sicht als oberstes Gebot auch die klare eindeutige Unabhängigkeit gegenüber politischen Parteien. Seine sichtliche Nähe zur Linkspartei, deren Politik ich hiermit ausdrücklich nicht kritisiere, macht es vielen Betroffenen unmöglich, sich mit den ansonsten im Grundsatz richtigen politischen Forderungen des ABiD zu identifizieren.

BBV mit eigenem Profil

Dem BBV ist es gelungen, sich aus dem Dunstkreis des ABiD etwas zu lösen. Einmal, weil er, wie schon gesagt, in all den Jahren eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Spontanzusammenschluss gepflegt hat sowie zahlreiche Doppelmitgliedschaften auf beiden Seiten bestanden, und zum anderen, weil der BBV ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal besitzt – die Berliner Behindertenzeitung (BBZ), das dem Verband ein einmaliges eigenständiges Profil verleiht. Die BBZ ist aus meiner Sicht das Beste und Wichtigste, was der BBV in den 25 Jahren hervorgebracht hat!

Die BBZ – ein Schatz

Ich war als Vorstandsmitglied in den Jahren 1996 bis 2000 verantwortlicher Redakteur der „Berlin-konkret“, später „Berliner Behindertenzeitung“ (BBZ) und kann beurteilen, was das für eine Leistung ist. Dazu ist die Zeitung noch stetig immer besser geworden. Ich gratuliere dem BBV als Herausgeber zu diesem wertvollen Schatz, den er unbedingt weiter hegen und pflegen muss. Allerdings wünsche ich mir auch hier zuweilen eine stärkere Beachtung des journalistischen Unabhängigkeitsgebotes!

Martin_Marquard

 

Zur Person: Martin Marquard war nahezu zehn Jahre lang Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung in Berlin.