Es gibt viele Arten von Grenzen. Linien, Mauern, Gräben. Solche zum Anfassen und solche, die nur im Kopf existieren. Gezogen, gebaut, ausgehoben werden sie von Menschen. Überwunden auch. In seinem aktuellen Ausstellungs- und Buchprojekt „Barriere:Zonen“ erzählt Fotojournalist Till Mayer solche Grenzgeschichten: Geschichten von Menschen mit Behinderung, die in ihrem Alltag immer wieder an Grenzen stoßen, an sichtbare und unsichtbare. 14 Porträts in Worten und Bildern hat der Bamberger Fotojournalist von seinen Reisen in aktuelle und ehemalige Kriegs- und Krisengebiete mitgebracht. Das Buch zur Ausstellung ist nun im Erich Weiss Verlag erschienen.
Etwas haben alle Porträtierten gemeinsam: In jedem ihrer Leben gibt es diesen einen Punkt, ab dem sich alles veränderte, die Grenze, über die es kein Zurück gibt. Den einen Schritt zu weit, direkt auf eine Landmine. Den Granatsplitter im Gehirn, den der Arzt im Feldlazarett übersehen hat. Den gekrümmten Finger am Abzug, der zum Mörder macht. Die Geburt eines behinderten Kindes an einem Ort, an dem das Leben schon ohne Behinderung alles andere als barrierefrei ist. Die meisten dieser Grenzen hat der Krieg gezogen.
Man sieht es schon am Titel: Till Mayer erzählt die Grenzen und Barrieren als Doppelpunkt. Sie sind da, sie trennen, aber sie sind durchlässig, sie sind nicht unüberwindbar. Ein Doppelpunkt heißt: Da kommt noch was, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es gibt Hoffnung. Den Texten und Bildern ist anzumerken: Mayer hört den Menschen zu, wenn sie von ihrer Angst, ihrem Leid, ihrer dunklen Vergangenheit erzählen.
Von Träumen und Hoffnung
Und fragt dann nach den Träumen, den Plänen, der Zukunft. Wie hätte er sonst erfahren, dass Phongsavath Manithong, ein 22-jähriger Tänzer aus Laos, dem eine Bombe beide Hände abgerissen hat, von der großen Liebe träumt? Oder dass es für Abdi Kershi, der vor mehr als zehn Jahren nach Deutschland geflohen ist, nachdem eine Kugel ihm in Somalia das Rückgrat verletzte, das größte Glück wäre, endlich arbeiten und Steuern zahlen zu dürfen?
Die Schlagzeilen zu Protesten und Anschläge gegen Flüchtlingsheime zeigen leider oft: Es scheint selbst dann einfach zu sein, das Leid anderer im Kopf hinter Barrieren zu verbannen, wenn sie als Asylbewerber in der Nachbarschaft leben. Wie einfach ist es dann erst, die zu vergessen, die am anderen Ende der Welt leiden?
„Barriere:Zonen“ widmet sich diesen Vergessenen, denen, die zurückbleiben, wenn die Welt das Interesse an einem Krieg langsam verliert. Es ist nicht das erste Projekt dieser Art, das der Journalist Till Mayer gestartet hat. Mehrmals im Jahr verlässt er seinen Schreibtisch in der Redaktion des Obermain-Tagblatts und bricht dahin auf, wo es weh tut: Wo es wehtut, hinzuschauen, zuzuhören, nicht zu vergessen. Für sein Engagement wurde Mayer mehrfach ausgezeichnet, unter anderem drei Mal mit dem Coburger Medienpreis. „Barriere:Zonen“ legt den Fokus auf den täglichen Kampf um einen würdevollen Alltag, den Menschen mit Behinderung vor allem in Krisengebieten führen müssen. Erschienen sind die Texte und Bilder in Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation Handicap International nicht nur als Buch, sondern auch als Wander-Ausstellung. Für seine Porträts ist Mayer unter anderem in den Gazastreifen gereist, in den Kongo, nach Laos, Kroatien, Serbien, Thailand und Vietnam, die USA, die Ukraine, nach Myanmar, Uganda und zu einem somalischen Flüchtling in Deutschland.
Die 14 Texte und die großformatigen Schwarz-Weiß-Bilder machen einem das Wegschauen unmöglich und das Hinschauen einfach: Till Mayer schildert Grauen, ohne voyeuristisch die Kamera darauf zu richten. Jeannette Lubira aus dem Kongo fotografiert er nicht, wie sie über Geröll robbt und ihre gelähmten Beine hinter sich herzieht – sondern mit sanftem Lächeln und aufrechtem Sitz vor einer Zeltwand. Er stellt nicht scharf auf die Arm- und Beinstümpfe von Branislav Kapetanovic, einem Streubombenüberlebenden aus Serbien – sondern auf das Porträt an der Zimmerwand, das ihn als Löwenbändiger zeigt.
Dass alles in Graustufen erzählt wird, erzeugt keine zusätzliche Dramatik, sondern das Gegenteil: Der Rollstuhl des fünfjährigen Nour Al Batran aus Gaza fällt erst auf den zweiten Blick auf. Vorher springt das verschmitzte Grinsen ins Auge, das er mit seinen Brüdern gemeinsam hat. Und erst auf den zweiten Blick nimmt man wahr, dass die Unterschenkel von Boniface Kapindo aus Uganda Prothesen sind. Viel zu sehr ist man fasziniert von seinem stolzen Lächeln. Till Mayer stellt seine Protagonisten niemals als Opfer dar. Sondern schlicht als Menschen. Als Menschen, die Tag für Tag Übermenschliches leisten.
„Barriere:Zonen“ von Till Mayer
72 S., 54 Abb., 21 x 26 cm, geb., Erich Weiß Verlag, ISBN: 978-3-940821-43-0, Preis: 10 Euro.