Kritik am Armuts- und Reichtumsbericht

Paritätischer Wohlfahrtsverband übt heftige Kritik

von: Lutz Kaulfuß

schneider03

Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Paritätische Gesamtverband (Bild) und Dominik Peter (stv. Vorsitzender Parität – Landesverband Berlin) üben Kritik am Armutsbericht. (Foto: “Der Paritätische Gesamtverband”).

Die Bundesregierung hat am 12.12.2016 den Entwurf des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland“ vorgelegt. Der Paritätische hat hierzu eine Stellungnahme vorgelegt, der mit Kritik nicht spart.

Der 655-seitige Berichtsentwurf enthalte zwar durchaus richtige wie alarmierende Fakten, etwa Daten zur wachsenden sozialen Spaltung der Gesellschaft und dem kontinuierlichen Anstieg der Armutsquote, bleibe jedoch eine ehrliche Bewertung und konkrete Handlungsvorschläge schuldig, so die Analyse des Paritätischen. „Wir haben in Deutschland kein Erkenntnisdefizit und unter Fachleuten ist auch völlig klar, was zu tun wäre, wir haben jedoch ein politisches Handlungsdefizit“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.

Der Paritätische kritisiert in seiner Stellungnahme unter anderem, dass der Bericht an keiner Stelle auf das Problem der „verdeckten Armut“ eingeht und die Perspektive von Armut betroffener Menschen nicht ausreichend berücksichtigt werde. Darüber hinaus werde insbesondere das aktuelle Ausmaß der Vermögensungleichheit in Deutschland nur völlig unzureichend abgebildet. Schließlich setze die Bundesregierung die schlechte Praxis der Vorgängerregierungen fort, wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Bericht zu tilgen, wenn sie politisch nicht opportun erscheinen, wie der Verband am Beispiel von Passagen zur politischen Repräsentation und Partizipation einkommensarmer Menschen dokumentiert, die aus früheren Berichtsentwürfen gestrichen wurden.

Armut und Menschen mit Behinderung

Der Berichtsentwurf thematisiert die Armutsbetroffenheit von Menschen mit Behinderten an zahlreichen Stellen. Diese ergeben jedoch aus Sicht des Paritätischen auch in der Addition kein umfassendes Bild der Armutsbetroffenheit. Zur Inklusion fehlen Zahlen, dass Kinder mit schwerster Behinderung häufig Probleme haben, überhaupt in eine Schule oder Kindertagesstätte aufgenommen zu werden und es immer noch Sondereinrichtungen gibt. Es fehlen zudem Darstellungen, wie viele Menschen mit Behinderung keine Berufsausbildung auf dem freien Arbeitsmarkt erhalten und aufgrund dessen auf Berufsbildungswerke oder den Berufsbildungsbereich der Werkstatt verwiesen werden.

Der Berichtsentwurf lobt die Leistungen der Bundesregierung u.a. wie folgt: „Damit mehr Jugendliche mit Behinderung im Anschluss an die Schulzeit den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt finden, können auch die Integrationsämter der Länder seit 1. August 2016 die berufliche Orientierung behinderter und schwerbehinderter Jugendlicher aus Mitteln der Ausgleichsabgabe ergänzend unterstützen“. Diesen Beifall teilt der Paritätische nicht: Auch wenn es richtig ist, dass die berufliche Orientierung für schwerbehinderte Jugendliche unterstützt wird, so muss dieses jedoch in der Verantwortung der Kultusministerien und der Bundesagentur für Arbeit aus deren Mitteln erfolgen.

Adrian Baldacci (links.) und Suzanna Kuhlemann. Modedesignerinnen.

Dominik Peter (Stv. Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverband – Landesverband Berlin).

„Die Ausgleichsabgabe sollte jedoch unbedingt der Arbeitsplatzsicherung vorbehalten sein. Wenn diese Vorgehensweise jedoch beibehalten werden sollte, muss die Ausgleichsabgabe im Gegenzug massiv erhöht werden. Dann erst werde ein Schuh daraus“, so Dominik Peter (Stv. Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverband – Landesverband Berlin).  Ergänzend fügte Dominik Peter hinzu: „In Zeiten wie diesen, wo die deutsche Wirtschaft mehr als rund läuft und die Firmengewinne kräftig sprudeln, ist eine Anhebung der Ausgleichabgabe eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit und verträglich“.

Wir sehen hier eine Zweckentfremdung der Mittel und die Möglichkeit für Bundesagentur für Arbeit (BA) und Länder, keine Ressourcen für die Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Berufliche Orientierung muss eine Pflichtaufgabe der BA und Bildung (Kultusministerien) sein und als Rechtsanspruch festgeschrieben werden.  Bisher bleibt dies eine Aufgabe in Abhängigkeit von den Haushaltsmittel der Bundesagentur für Arbeit oder der Länder.

Kritik am Bundesteilhabegesetz

Auf Seite 466 des Berichtsentwurfs heisst es zum Bundesteilhabegesetz (BTHG): “Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen werden aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe herausgeführt und in einem im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) neu geregelt“. Das ist vordergründig zutreffend. Betroffene werden in das SGB IX überführt, dennoch bleibt Behinderung nach wie vor ein Armutsrisiko, weil Leistungen der Grundsicherung und der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Einkommens- und Vermögensfreigrenzen sich auch weiterhin am Niveau der Sozialhilfe bzw. den Leistungen für Arbeitsuchende orientieren. Der neue Charakter der sozialen Teilhabe entspricht weder dem Konzept der Verwirklichungschancen der UN-Behindertenrechtskonvention noch der Lebensrealität von Menschen mit Behinderung. Beispielsweise besteht die große Gefahr, dass Lücken bei den heute gewährten Gesundheitsleistungen entstehen und zahlreiche Streitigkeiten bei der Zuordnung der Leistungen langwierig auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden.

Zwar mag es zutreffen, dass die Bundesregierung sich – wie im Bericht formuliert – zum Ziel gesetzt hat, die Anstrengungen für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt weiter zu erhöhen. Sie unternimmt kaum etwas, dass sich die Situation der rund 700.000 Beschäftigten in den ca. 300 Werkstätten für Menschen mit Behinderung ändert. Deren Einkommenssituation bleibt unterhalb der Armutsgrenze. Das aus einem Grundbetrag und dem Arbeitsergebnis ermittelte Arbeitsentgelt beträgt zurzeit im Durchschnitt ca. 180,00 Euro im Monat, das entspricht ca. 1,30 Euro für die Stunde. Ebenso wurde nichts unternommen, dass sich die Situation für schwerst- mehrfachbehinderte Menschen ändert. Das Kriterium „Mindestmaß verwertbarer Arbeit“ für den Zugang zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung konnte nicht abgeschafft werden, so dass für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf eine für sie erreichbare Teilhabe am Arbeitsleben erschwert und Beschäftigung, wenn überhaupt, nur außerhalb von Werkstätten in besonderen Tagesförderstätten möglich wird.

Die Bundesregierung setzt auf Unterstützung, wenn Arbeitsproduktivität gegeben ist, wer dies nicht erreicht, bleibt in der Armutsfalle, auch wenn erste Verbesserungen mit dem BTHG auch für Werkstattbeschäftigte angedacht sind. Menschen mit Behinderung in der Werkstatt oder in der Tagesstruktur fehlen im Bericht, obwohl sie arm sind.