Freitagabend gegen 19 Uhr. Der Seminarraum der Humboldt-Universität in der Dorotheenstraße 24 in Berlin ist grell erleuchtet. Nur das Mischpult und zwei große Boxen lassen erahnen, dass hier gleich keine Vorlesung gehalten wird. Langsam versammeln sich die zumeist jungen Teilnehmer. Viele kommen im Rollstuhl, einige in Begleitung einer Assistenz. Die Begrüßungen untereinander sind herzlich. Man kennt sich. Eine halbe Stunde später ist von der sterilen Atmosphäre im Seminarraum nichts mehr zu spüren. „Mein Leben ist kein schwerer Schicksalsschlag, mein Leben ist geil, sucht euch einen anderen, mit dem ihr Mitleid habt“, der Berliner Rapper Graf Fidi legt eine Performance hin, die alle mitreißt.
Mit diesem musikalischen Act wird die erste „Young Disability Pride“ Tagung in Berlin eröffnet. Organisiert wird der Event am 7. und 8. November von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Die Leitideen dieses behinderungsübergreifend arbeitenden Vereins lauten Selbstbestimmung, Selbstvertretung, Inklusion und Empowerment. Die Tagung am Campus am Hegelplatz ist Bestandteil ihres dreijährigen Aufklärungsprojektes „Disability Pride – aus Scham wird Stolz“ und wird von der Aktion Mensch gefördert. Scham und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung sollen überwunden werden. Zielgruppe der „Young Disability Pride“ Tagung sind vor allem junge Menschen mit Behinderung.
Der kulturelle Auftakt der Veranstaltung scheint den rund 30 Teilnehmern gut zu gefallen. Gebärdendolmetscherinnen übersetzen den Rap. Mit seinen größtenteils autobiographischen Texten und seiner lockeren Performance verkörpert Graf Fidi einen selbstbewussten, selbstverständlichen Umgang mit Behinderung, der auch sein Publikum inspiriert. Eine gehörlose Teilnehmerin schwärmt im Anschluss: Der heitere Umgang des Rappers mit den Alltagsproblemen von Behinderung hätten sie gleich angesteckt. Es tue gut, mit einem Lachen in die Veranstaltung zu starten. Kämpfen und anstrengen müssten sich Menschen mit Behinderung oft genug.
Einige der Anstrengungen und Kämpfe der Behindertenbewegung werden am folgenden Samstagmorgen von Dr. Sigrid Arnade thematisiert. Trotz fortdauernden Bahnstreiks und einiger Absagen kommen an diesem Morgen sogar rund 50 Teilnehmer in die Dorotheenstraße zu dem Vortrag der ISL Geschäftsführerin. Die Moderatoren der Tagung, Anna-Lin Karl von der Humboldt-Universität und Hans-Günter Heiden von der ISL weisen auf die roten Schilder hin, die sie verteilt haben. Das Publikum soll die Schilder mit der Aufschrift „Stopp leichte Sprache“ hochhalten, wenn etwas nicht verstanden werde. Beim Wort Partizipation gehen sofort einige Schilder in die Höhe. Arnade unterbricht ihren Vortrag und erklärt den Begriff. Partizipation bedeute Teilhabe. Dazu gehöre auch das Recht zur aktiven Mitgestaltung. Jetzt verstehen auch die Teilnehmer mit Lernschwierigkeiten, was gemeint ist. Viele der jungen Teilnehmer machen sich Notizen, auf welche Gesetze sie sich zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position berufen können.
Richtig euphorisch wird Arnade als sie den Teilnehmern der Tagung die seit März 2009 in Deutschland geltende UN Behindertenrechtskonvention (Kurzform BRK) vorstellt. Getreu dem Motto „nichts über uns, ohne uns“ hätten auch Mitarbeiter der ISL, unter ihnen Arnade, an der Ausarbeitung der BRK mitgewirkt. Mit der BRK werde ein vielfältiger Perspektivenwechsel realisiert: „Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, von der Integration zur Inklusion, von Objekten zu Subjekten und von Problemfällen zu Trägern von Rechten“.
Die Behindertenbewegung hat schon viel erreicht. Das wird im Vortrag deutlich und das erkennen auch die jungen Teilnehmer an. Über zukünftige Strategien gibt es im Raum unterschiedliche Vorstellungen. Der junge Aktivist Dr. Sven Drebes meldet sich zu Wort. Er befürchte, die Behindertenbewegung stecke zu viel Energie in Gremienarbeit, die ihr dann für andere Aktionen fehle. Viele der Teilnehmer nicken zustimmend. Auch der anschließende Vortrag der Professorin für Disability Studies, Lisa Pfahl, regt das Publikum zu Diskussionen an. Die Professorin referiert zum Phänomen des Ableismus (vom Englischen able = fähig), der Abwertung von Menschen aufgrund angeblich fehlender Fähigkeiten. Noch während des Vortrags wird lebhaft debattiert. Wem nützen Kategorien wie die der Behinderung? Der Verwaltung? Den Sonderpädagogen, die so ihre Existenz rechtfertigen? Uns Betroffenen, die wir auf Leistungen angewiesen sind?
Am Nachmittag besuchen die Teilnehmer verschiedene Workshops. Die Auswahl ist groß und reicht von Yoga bis zu einem globalen Projekt, welches weltweit Informationen zu Gebärdensprache sammelt. Eine Gruppe von 12 Teilnehmern findet sich zum Workshop „Behindert und verrückt raus auf die Straße – Aktivismus im öffentlichen Raum“ zusammen. Geleitet wird der Workshop von Antje Barten, Dr. Sven Drebes und Ly* Antwerpen. Die jungen Leute gehörten 2013 und 2014 zu den Organisatoren der Pride Parade in Berlin. Die Pride Parade ist eine Demonstration im Stil der Loveparade. Behinderte Demonstranten ziehen fröhlich feiernd durch die Stadt und treten für ein anderes Bild von Behinderung ein. Auch im Workshop ist die Atmosphäre locker. Die Teilnehmer schildern, was sie beschäftigt. Mareen äußert sich frustriert „Warum muss man für jeden Mist kämpfen?“ Während Anna Lena besserer Dinge ist und sich erhofft zu lernen „wie man harte politische Forderungen ins Humorige übersetzen kann.“ Die Organisatoren der Pride Parade erklären den Teilnehmern zunächst rechtliche Aspekte von Demonstrationen und Protestformen im öffentlichen Raum und stellen einige ihrer eigenen Aktionen vor. Dann besprechen die Teilnehmer mit ihnen, wofür sie selbst eintreten wollen. Ein buntes Brainstorming beginnt. Die Gruppe überlegt wie man Flyer oder Aufkleber in Braille (Blindenschrift) drucken kann, welche Performance Aktionen umsetzbar sind und wie man gegen den Missstand protestieren könnte, dass der Berliner Fernsehturm für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich ist.
Mareen scheint Recht zu haben. Auch für die junge Behindertenbewegung ist noch genug Mist zum kämpfen übrig. Die Tagung gibt den Teilnehmern Inspiration, Selbstbewusstsein und Anregungen für ihr Engagement. Wir können auf ihre Aktionen gespannt sein.
„Mein Leben ist geil“ – aus Scham wird Stolz
von: Dr. Jennifer Meyer-Ueding