Corinna Rüffer (41 Jahre) ist Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Zudem vertritt sie ihre Partei im Ausschuss für Arbeit und Soziales und im Petitionsausschuss des Bundestags. Seit 1999 ist sie Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied des Beirates der Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen e.V. in Berlin.
BBZ: Sie haben sich in den letzten Monaten vehement gegen das Bundesteilhabegesetz eingesetzt. Doch viele Länderregierungen, in denen Ihre Partei mitregiert, haben das BTHG nunmehr durchgewunken. Das müssen Sie dem Leser erklären?
Corinna Rüfffer: Ich habe den Entwurf der Bundesregierung massiv kritisiert, weil er viele Verschlechterungen für behinderte Menschen bedeutet hätte. Also habe mich gemeinsam mit den Grünen in den Ländern für ein gutes Teilhabegesetz eingesetzt. Im Gegensatz zu mir konnten sie mit Union und SPD über konkrete Verbesserungen am Gesetz verhandeln. Den Grünen in den Ländern ist es unter anderem zu verdanken, dass der leistungsberechtigte Personenkreis nicht eingeschränkt wird, dass die Schnittstelle zur Pflege verbessert wurde und der Vorrang inklusiver Wohnformen weiterhin bestehen bleibt. Ich bin froh, dass wir Grünen für diese Verbesserungen gestritten und das Allerschlimmste verhindert haben. Gleichzeitig bin ich auch unzufrieden: Angesichts der klaren Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention muss ein Teilhabegesetz mehr leisten. Dieses Für und Wider zeigte sich auch bei der Abstimmung im Bundesrat. In einigen Bundesländern haben die Grünen zugestimmt, weil sie Verhandlungserfolge erzielt haben, beispielsweise in Baden-Württemberg oder Hamburg. In anderen Ländern wie Schleswig-Holstein oder Berlin sind die Grünen zum Ergebnis gekommen, dass ihnen das nicht reicht.
BBZ: Frau Rüffer, Sie haben noch in einer Presseerklärung am 01. Dezember geschrieben, dass „die Bundesregierung viel Vertrauen bei Menschen mit Behinderungen und ihrem Umfeld verspielt“ hat. Hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen dies nicht auch?
Rüfffer: Natürlich. Mit dem Teilhabegesetz waren viele berechtigte Hoffnungen verbunden, und sie haben sich nicht erfüllt. Da die Grünen an den Verhandlungen beteiligt waren, ist es ja verständlich, dass sie auch in die Verantwortung genommen werden. Ich setze aber darauf, dass letztendlich klar ist, wer in diesen Verhandlungen immer am längeren Hebel saß: Das waren Union und SPD. Wir Grüne können zwar in einem gewissen Maße Druck aufbauen, aber man darf sich das nicht als eine gleichberechtigte und sachorientierte Diskussion vorstellen, in der gemeinsam nach der besten Lösung für behinderte Menschen gesucht wird. Die SPD hat einen Beteiligungsprozess veranstaltet, aus dem sie sichtlich wenig mitgenommen hat. Die Bundesregierung hat einen katastrophalen Gesetzentwurf vorgelegt. Union und SPD haben sich nicht überzeugen lassen, endlich eine Regelung zu finden, die Menschen nicht mehr ins Heim zwingen kann. Insofern bin ich zwar selbst enttäuscht, dass wir nicht mehr heraushandeln konnten – aber angesichts der bestehenden Machtkonstellationen war nicht mehr drin.
BBZ: Es gibt sehr kritikwürdige Passagen im BTHG. Was raten Sie nunmehr der Behindertenbewegung? Wie könnten bestimmte Regelungen in der näheren Zukunft verbessert werden?
Rüfffer: Ich habe mich über die Kraft und Sichtbarkeit behinderter Menschen in der Debatte zum Teilhabegesetz unglaublich gefreut. Es gab tolle Protestaktionen und viel Durchhaltevermögen – ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie das Teilhabegesetz aussehen würde, hätte es die Behindertenbewegung nicht gegeben. Es ist gelungen, weit über die eigene Szene hinaus deutlich zu machen, in welchem Ausmaß behinderte Menschen für ihr Recht kämpfen müssen und welche Barrieren bestehen. Aus meiner Sicht muss es gelingen, an diese neue Sichtbarkeit anzuknüpfen und zum Beispiel öffentlich zu machen, dass behinderte Menschen noch immer gegen ihren Willen im Heim leben müssen. Das ist ein Grund für Empörung, das können auch Nichtbehinderte nachvollziehen, da bin ich sicher. Wir müssen solche Empörung nähren und dafür sorgen, dass auch Politikerinnen und Politiker wissen, wie der Alltag behinderter Menschen aussieht und welche Hindernisse sie immer wieder überwinden müssen. Welche Chance bestünde sonst?
BBZ: Es gibt zumindest bereits Gedankenspiele, dass nach der Bundestagswahl im September auch der Bund von einer r2g-Koalition regiert werden könnte, sofern das Wahlergebnis dies zulassen würde. Nach den jetzt gemachten Erfahrungen im Bundesrat stellt sich behinderten Lesern die Frage, ob Bündnis 90/Die Grünen dann im Bund ebenfalls als Bremser einer Umsetzung der UN-BRK auftritt?
Rüfffer: Da mache ich mir weniger Sorgen: Thüringen und Berlin, bisher die einzigen Länder, in denen es diese Koalitionen gibt, haben dem Teilhabegesetz im Bundesrat ja nicht zugestimmt. Und im Bundestag haben wir Grüne in den letzten Jahren immer wieder Vorschläge eingebracht, die weiter gehen, als Union und SPD das möchten. Wen also sollten wir bremsen? Wir möchten das System umgestalten, in dem Einrichtungen – seien es Wohneinrichtungen oder Werkstätten – gegenüber der individuellen Lösung noch immer die Norm sind. Da muss man endlich konsequente Schritte gehen, ohne dass Menschen hinten runterfallen.
BBZ: Gehen sie mit uns auf eine Traumreise: Stellen Sie sich vor, nach der Bundestagswahl würden Sie zur neuen Sozialministerin ernannt werden. Was wären für Sie die wichtigsten Baustellen, was könnten Sie davon auch mit ihrer Partei umsetzen?
Rüfffer: Ich beschränke mich mal auf den behindertenpolitischen Bereich: Aus meiner Sicht muss sich für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf erheblich mehr tun. Auch sie haben das Recht, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Es kann nicht sein, dass das stationäre Angebot die einzige Option ist. Aber auch andere besonders verletzliche Gruppen würde ich stärker in den Vordergrund stellen: Behinderte Asylsuchende zum Beispiel, da wäre sehr viel zu tun. Über diese und andere Themen debattieren wir Grünen bereits, und wir haben entsprechende Initiativen auf den Weg gebracht.
BBZ: Sehr geehrte Frau Rüffer, haben Sie besten Dank für das Interview.