Voller Spannung erwarten die Behindertenverbände den Entwurf des Bundesteilhabegesetzes. Ein Gesetz, welches die Bedarfe von Menschen mit Behinderung allumfassend und einheitlich regeln soll. Ein Gesetz, in welches rund 13 Mio. Betroffene all ihre Hoffnung auf die Verbesserung ihrer Lebenssituation setzen.
Was wird es bringen? Einen Paradigmenwechsel oder nur einen weiteren Grabstein auf dem Friedhof der Rechte von Menschen mit Behinderung? Der Euphorie, mit der damals alles begann, als die Verbände endlich Gehör fanden und sich die Bundesregierung der Idee für ein neues, allumfassendes Gesetz öffnete, folgte schnell die Ernüchterung, dass man seitens der Regierung im Grunde nur nach einem neuen Kleid für die zerfledderte Puppe in Gestalt der Nachkriegsfürsorge in Verbindung mit dem Armenrecht suchte.
Dennoch, großangelegte Aktionen wurden gestartet, die Verbände in die Arbeitskreise eingebunden, unendliche Diskussionen geführt – die Mitarbeiter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und ihre Chefin Andrea Nahles haben sich beispielsweise bei den Inklusionstagen alles notiert und versprochen, es gebührend zu berücksichtigen und sich umfassend damit auseinanderzusetzen. Einer Studie folgten die Nächsten.
Selten wurden die Lebensumstände von Menschen mit Behinderung und ihre daraus resultierenden Nachteile so umfassend dokumentiert. Und zwar von den Betroffenen selbst. Alle glaubten an den festen Willen der Verantwortlichen, mit diesem Gesetz die Menschen mit Behinderung aus der Sozialhilfe herauszulösen, ihnen ein allumfassendes selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Doch je klarer die Verbände ihre Forderungen formulierten, umso deutlicher argumentierten die Verantwortlichen dagegen. Kostenvorbehalte, bis hin zur Aussage „Geld vor Menschenrecht“ wurden den Verbänden entgegengebracht.
Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?
Muss sich nur ein reicher Staat an die Menschenrechte der Vereinten Nationen halten? Seit 2009 ist die UN-BRK geltendes Recht in Deutschland, steht dieses Menschenrecht über jedem deutschen Gesetz. Die UN-BRK fordert jeden Staat zur Einhaltung dieser Gesetze auf. Die einfachste Aufgabe wäre gewesen, die bestehenden Gesetze zu überprüfen, ob sie gegen die UN-BRK verstoßen und gegebenenfalls entsprechend zu ändern, wie es Deutschland im Artikel 4 der BRK zugesagt hat. Was geschah in den letzten sechs Jahren? – Nichts! Stop: stimmt so nicht ganz, es wurden wieder große Events mit den Betroffenen veranstaltet, tolle Aktionspläne entwickelt. Nur die Umsetzung selbst derer lässt auf sich warten – das liebe Geld mal wieder. Wie drohte ein hoher Beamter in seiner Eröffnungsrede anlässlich der Gründung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung am 12. Juni 2015 in Berlin? „Machen Sie sich gute Gedanken, erarbeiten sie gute Vorschläge, aber denken sie daran, es darf nichts kosten.“ Fehlendes Geld verhindert also Menschenrecht? Ist Deutschland wirklich so arm, dass es Menschenrechte beugen muss? Oder sind es die Vorgaben, „schwarze Nullen“ zu halten, „koste es was es wolle“?
Einstimmig fordern alle Verbände die komplette Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung. Die Kanzlerin betont, Leistung müsse sich lohnen. Stellt sich die Frage: für wen? Für einen Menschen mit Behinderung sicherlich nicht. Je mehr er sich anstrengt, sich im Berufsleben nach oben kämpft, umso mehr partizipiert der Staat an ihm. Denn wer auf Assistenz angewiesen ist, erhält erst dann Hilfe von Staat, wenn er weniger als 2.600 Euro besitzt. Egal wie viel er verdient, es bleibt ihm nur der doppelte Grundsicherungssatz und vom Rest – wenn überhaupt – oftmals ein willkürlich festgelegter prozentualer Anteil.
In Ehe und Partnerschaft muss sich darüber hinaus auch der nichtbehinderte Lebenspartner an der Assistenz seines behinderten Partners aktiv und finanziell beteiligen. Liebe auf dem Prüfstand von Sozialbehörden. Auf diese Weise hat sich der Sozialstaat bereits ganze Häuser und jede Menge Ersparnisse unter den Nagel gerissen.
Bringt das neue Gesetz Verbesserungen?
Diejenigen, die eine umfangreiche Assistenz benötigen und daher auch Leistungen aus der Hilfe zur Pflege des SGB XII beziehen, gucken offensichtlich auch weiterhin in die Röhre. Diese Leistungen werden auf keinen Fall einkommens- und vermögensunabhängig gestaltet werden können, hieß es schon im Mai 2015 aus SPD-Kreisen. Auf den zweiten Inklusionstagen im November 2015 eröffnete die parlamentarische Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller die Veranstaltung und stellte klar, dass eine vollständige Befreiung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen nicht vorgesehen sei. Konkreter wurde sie auf einer Veranstaltung des Deutschen Behindertenrates am 3. Dezember: „Man wolle aus der Sozialhilfelogik heraus, aber die vollständige Anrechnungsfreiheit werde es im Bundesteilhabegesetz nicht geben.“
Aber auch die CDU hat scheinbar ein Problem mit einem gleichberechtigten Leben von Menschen mit Behinderung: Der Mehrkostenvorbehalt im § 13 des SGB XII besagt, dass ein Leben in den eigenen Räumen nur dann unterstützt werden könne, wenn es wirtschaftlich vertretbar sei. Eine Streichung dieser Vorschrift kommt für die Christdemokraten überhaupt nicht infrage. Dies steht komplett im Widerspruch zum Wunsch- und Wahlrecht des Art. 19 der UN-BRK. Eine Anpassung wäre ein grundsätzliches und wichtiges Signal.
Alle Bemühungen der Verbände verlieren sich in den Hallen des BMAS. „Wir können nichts machen, das Bundesfinanzministerium ist verantwortlich.“ So schiebt es einer auf den anderen. Auf der Strecke bleiben die Betroffenen. Dem viertgrößten Industriestaat dieser Welt sind parteipolitische Ziele, „schwarze Nullen“, wichtiger als die Einhaltung von Menschenrechten. Ja, sogar wichtiger als das von den Urvätern unserer Bundesrepublik genial verfasste Grundgesetz. Artikel 3 verbietet jede Benachteiligung von Menschen, explizit auch von Menschen mit Behinderung. Von Geld und Kostenvorbehalten steht darin nichts.
Werden alle Abgeordneten zu Straftätern?
Verstößt ein Mitbürger gegen ein Gesetz, muss er mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Unsere Abgeordneten sind dagegen anscheinend immun. Wenn der Entwurf für das Bundesteilhabegesetz nicht noch radikal geändert wird und sich an den Bedarfen und verbrieften Rechten von Menschen mit Behinderung orientiert, werden dann alle Abgeordnete zu Straftätern, wenn sie diesem Gesetz zustimmen? Wer wird sie wegen Verstoßes gegen Menschenrechte, wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz anklagen? Die Aufrichtigkeit der Opposition wird daran zu messen sein, ob sie bereit ist, gegen Verstöße auch vor das Verfassungsgericht zu ziehen und eine Normenkontrollklage einzureichen. Artikel 3 unserer Verfassung ist ein Grundrecht. Als solches bindet es Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Es muss sich in diesem Zusammenhang erst noch erweisen, ob Menschen mit Behinderung eine tatsächliche Wahl bei der Wahl haben.
Aufklärung tut Not
Natürlich ist es nicht einfach, dem nichtbehinderten Mitbürger verständlich zu machen, warum ein Mensch mit Bedarf an Nachteilsausgleichen oftmals sehr hohe Kosten vom Staat finanziert bekommt. Aber auch in diese Richtung unternehmen die Verantwortlichen nichts, um die (noch) nicht behinderten Mitbürger darüber objektiv aufzuklären. Aufzuklären darüber, dass zwar Kosten entstehen, dies aber gleichzeitig für viele andere Menschen die Existenzgrundlage bedeutet. Denn von den Ausgaben profitieren auch Therapeuten, deren Ausbildungsstätten, die Hilfsmittelhersteller, Assistenzpersonen und nicht zuletzt der Bauarbeiter, der gerade die Welt ein bisschen barrierefreier gestaltet, indem er Hürden und Bordsteine einebnet. Das durch die Bedarfe von Menschen mit Behinderung generierte Bruttosozialprodukt kommt direkt nach dem Anteil der Automobilindustrie. Menschen mit Behinderung kosten kein Geld, an ihrer Existenz wächst die Volkswirtschaft. Gäbe es sie nicht, würde ein kompletter Wirtschaftszweig wegbrechen – nur über den Wirtschaftsfaktor „Mensch mit Behinderung“ spricht niemand, stellt niemand Berechnungen an.
Über das Morgen nachdenken
Im neuen Bundesteilhabegesetz möchte man ein paar Bemessungsgrenzen anheben, zeigt damit guten Willen, und gut ist für die nächsten 20 Jahre? Niemand in der Bevölkerung wird davon Notiz nehmen – warum auch – man ist ja nicht betroffen, kennt diese Welt auf der anderen Seite nicht. Tabuisiert, verdrängt, anstatt sich dem Gedanken zu erschließen, dass es keine Garantie auf ein gesundes, unbehindertes Leben gibt, dass es jeden treffen kann, jederzeit jeden Tag. Finanzminister Schäuble sollte es wissen. Sieht er die Probleme nicht, oder will er sie nicht sehen? Egal, denn einzig und allein unsere Gesellschaft sollte sich dieses Bewusstsein erschließen und daraus die Kraft und Motivation entwickeln, demjenigen umfassend zu helfen, den das Schicksal so hart getroffen hat. Denn, auf welcher Seite man am nächsten Tag erwacht, weiß keiner. Wie sich das Leben dann gestaltet, sollte man heute schon von der Politik einfordern. Vielleicht trägt dieser Artikel ja dazu bei, über das Morgen nachzudenken und die anstehenden Wahlen dazu zu nutzen, die richtigen Weichen zu stellen.
Noch ist nichts entschieden
Aber noch gilt auch die Zuversicht, dass die Bundesregierung nicht gegen Artikel 4 der UN-BRK verstößt. Darin hat sie versprochen, neue Gesetze und Änderungen nur noch konventionskonform zu verabschieden. Noch ist nichts entschieden. Noch kann sich das Bundesteilhabegesetz zum Positiven verändern, losgelöst von der Frage der Finanzierbarkeit hin zur Notwendigkeit der Erfüllung unseres Grundgesetzes und der Menschenrechte. Werte, die über jedem Euro stehen sollten.