Recht auf inklusive schulische Bildung

Stuttgarter Erklärung der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen von Bund und Ländern

von: Berliner Behindertenzeitung

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Verena Bentele, Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen der Bundesregierung.

Behindertenbeauftragte von Bund und Ländern beschließen Stuttgarter Erklärung zum Recht auf inklusive schulische Bildung.
Inklusion ist eine Aufgabe für alle Schulen und Schularten. Behindertenbeauftragte fordern Aufhebung des Kooperationsverbots

Auf Einladung des Beauftragten der Landesregierung von Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen trafen sich am 13. und 14. November 2014 die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern zu ihrer diesjährigen Herbsttagung in Stuttgart und haben das zentralen Anliegen der UN-Behinderten­rechtskonvention nach Verwirklichung des Rechts auf gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung bekräftigt.

Inklusion im Bildungsbereich nach Artikel 24 UN-Behindertenrechtskonvention be­deutet, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, ihre Potenziale und Fähigkeiten im allgemeinen Bildungssystem entwickeln zu kön­nen. Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung ist nach der UN-Konvention der Regel- und nicht der Ausnahmefall. Inklusion ist somit eine Auf­gabe für alle Schulen und Schularten“, bekräftigten die Beauftragten des Bundes und der Länder in ihrer gemeinsamen Stuttgarter Erklärung.

„Ein inklusives Bildungssystem kann es nicht zum Nulltarif geben“, sagte Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. „Bund, Länder und Kommunen werden aufgefordert, die notwendigen finanziellen Mittel zusätzlich bereitzustellen, so Verena Bentele weiter.

Gerd Weimer appellierte insbesondere an die Kommunen, sich ihrer Verantwortung für ein inklusives Bildungssystem zu stellen. „Die Verwirklichung des Rechts auf in­klusive Bildung bzw. die Schaffung eines durchgängig inklusiven Bildungssystems ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die Bund, Länder und Gemeinden ge­meinsam verantwortlich sind. Es darf nicht sein, dass die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderungen an durchgängig inklusiven Bildungsange­boten durch eine übermäßige Berufung auf die Konnexität eingeschränkt wird“, betonte der Landes-Behindertenbeauftragte.

Auch bekräftigten die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern, dass das Recht auf inklusive Bildung für Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention weit über den Bereich der schulischen Bildung hinausgeht und ins­besondere die Bereiche frühkindliche Bildung, die berufliche Bildung, das Hoch­schulwesen, die Erwachsenbildung sowie alle Bildungsangebote und Bildungsein­richtungen im Sinne des lebenslangen Lernens umfasst.

Die Stuttgarter Erklärung

Inklusive Bildung ist ein zentrales Anliegen der in Deutschland vor über fünf Jahren durch Bundesgesetz eingeführten UN-Behindertenrechtskonvention und beinhaltet das Recht auf gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen im allgemeinen Bildungssystem. In der aktuellen Diskussion zur Weiterentwicklung des föderalen Bildungssystems im Lichte dieses unteilbaren Grund- und Menschenrechts wird die sich hieraus ergebende normative Verpflichtung nur teilweise und viel zu zögerlich umgesetzt. Unterschiedliche Aufga­ben-, Finanzierungs- und Personalver­antwortlichkeiten bei den am Bildungsprozess Beteiligten und daraus resultierende komplexe Fragen der Ressourcenverantwortlichkeit stehen der gebotenen Verwirkli­chung des Rechts auf Selbstbestimmung und Teilhabe insbesondere im schuli­schen Bereich noch immer entgegen. Eltern von Kindern mit Behinderungen, die sich für ein inklusives Bil­dungsangebot entscheiden, müssen sich ihre Rechte vielfach vor Ge­richt erstrei­ten.

Inklusion im Bildungsbereich nach Artikel 24 UN-Behindertenrechtskonvention be-deutet, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, ihre Potenziale und Fähigkeiten im allgemeinen Bildungssystem entwickeln zu kön­nen.
Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Beschulung aller Schülerinnen und Schüler in einer Regelschule müssen Eltern bzw. die jungen Menschen mit Behinderungen ein Wunsch- und Wahlrecht zur Bestimmung des Lernortes haben.

Die Rahmenbedingungen, die schulgesetzlichen Regelungen und die bislang reali­sierten Angebote in­klusiver schulischer Bildung gehen in den einzelnen Bundeslän­dern noch weit ausei­nander. Aus diesem Grund bekräftigen bzw. fordern die Behin­dertenbe­auftragten des Bundes und der Länder am 14. November 2014 in Stuttgart anlässlich ihrer Herbst­tagung folgendes:

1.    Von der Inklusion im Bildungswesen profitieren Kinder mit und ohne Behinderung gleichermaßen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dann trägt das ge­mein-same Lernen entscheidend dazu bei, die Bildungsqualität zu steigern. Inklusion in der Bildung stellt die unterschied­lichen Bedürfnisse aller Lernenden in den Mittelpunkt und begreift Vielfalt als Res­source und Chance für Lern- und Bil­dungspro-zesse. Inklusive Bildungsangebote sind Ausdruck einer „Willkommens­kultur für alle“ und fördern das soziale Lernen als zentrale Weichenstellung für in­klusives Denken und Handeln für alle Lebens­bereiche. Deshalb setzen wir uns für ein inklusives Schulsystem ein. Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderun­gen sollen vor Ort selbstverständlich die gleichen Schulen besuchen können.

2.    Inklusive Bildung erfordert offene Unterrichtsgestaltung in der Form des zielglei­chen und zieldifferenten Lernens, strukturelle und inhaltliche Anpassungen der schulgesetzlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen sowie die Bereitstel­lung hierfür notwendiger Ressourcen. Individuelle Förderung und Lernen in hete­rogenen Gruppen sind die Grundlage für eine inklusive persönliche und gesell­schaftliche Entwicklung und damit für eine volle und wirksame Teilhabe in allen Lebensbereichen.

3.    Die Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung bzw. die Schaffung eines durch­gängig inklusiven Bildungssystems ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sind somit alle gemeinsam ver­antwortlich. Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft sind gefordert, ih­ren Beitrag zu leisten, um einstellungs- und umweltbedingte Barrieren abzubauen sowie Inklusion als Leitbild im Bildungsauftrag und der Bildungspraxis zu etab­lie­ren. Hierfür brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens und die Bereitschaft bei den Verantwortlichen auf allen Ebenen, die angemessenen Vorkehrungen zu schaffen. Diese Herausforde­rung gilt für die frühkindliche Bildung in gleicher Weise für alle schulischen Ange­bote der Primarstufe sowie für die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II einschließlich der berufsbildenden Schulen.

4.    Ein inklusives Bildungssystem kann es nicht zum Nulltarif geben. Bund, Länder und Kommunen werden aufgefordert, für die Neuausrichtung und Weiterentwick­lung der noch immer separierenden Bildungsangebote für Men­schen mit Be­hin-derungen die notwendigen finanziellen Mittel zusätzlich be­reitzu­stellen und die­sem Schulentwicklungsprozess, entsprechend der Verpflich­tung durch Artikel 4 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention, unter Aus­schöpfung ihrer verfüg­baren Mittel höchste Priorität einzuräumen.

5.    Der Bund wird aufgefordert,
sich für eine Aufhebung des 2006 für den Bereich der Bildung in die Verfassung eingefügten Kooperati­onsverbots einzusetzen. Der Bund muss sich zu seiner Verantwortung für Inklu­sion als Vorhaben von überregionaler Bedeutung bekennen und sich auch im Bereich der Schule dauerhaft mit einem finanziellen Beitrag engagieren kön­nen
ein Programm zum Ausbau einer umfassend barrierefreien Infrastruktur im schu­lischen Bereich aufzulegen
die zugesagte finanzielle Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro pro Jahr unmittelbar mit der Reform der Eingliederungshilfe für Men­schen mit Behinderungen und damit mit der Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verbinden und
den Gesetzentwurf für ein Bundesteilhabegesetz so rechtzeitig vorzulegen, dass dieses spätestens zum 1. Januar 2017 in Kraft treten kann.

6.    Die Länder werden aufgefordert,
sich – auch in der KMK – auf länderübergreifende gemeinsame Ziele und Standards für Rahmenbe­dingungen, Organisation sowie Lehr- und Lerngestaltung als Grundlage für ein durchgängig inklusives Lernen von Kindern mit und ohne Behinderun­gen zu verständigen
sich für gleiche Bildungschancen auch für Kinder und Jugendliche mit Behinde­rungen einzusetzen
in den Schulgesetzen zügig das Recht auf inklusive Bildung zu verankern und möglichst konkret zu regeln
dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, Vorrang einzuräumen
die Schulträger zu einer inklusiven Schulentwicklungsplanung zu verpflichten
die pädagogische Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle Schularten an den An­forderungen eines in­klusiven Bildungssystems auszurichten und die Ausbil­dungs- und Prüfungs­ordnungen an die inklusive Pädagogik anzupassen
Bildungs- und Lehrpläne sowie die Leistungsbewertung für den zielgleichen bzw. zieldifferenzierten Unterricht im Sinne eines inklusiven Bildungssystems zu gestalten.

7.    Die Kommunen werden aufgefordert,
sich ihrer Verantwortung für ein inklusives Bildungssystem zu stellen
die Schulentwicklungsplanung inklusiv auszurichten
die Barrierefreiheit von Bildungseinrichtungen zu gewährleisten, damit die Grundlage für inklusive Bildungsangebote im Sozialraum geschaffen wird
die kommunalen Strukturen in die inklusive Bildung einzubinden und insbeson­dere im Bereich der Eingliederungs- und Jugendhilfe die notwendi­gen Assistenzen unbürokratisch zu bewilligen
die Verankerung des Rechts auf inklusive Bildung in den Schulgesetzen der Länder aktiv zu unterstützen und
die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderungen an durchgängig inklusiven Bildungsangeboten nicht durch eine übermäßige Be­rufung auf eine Konnexität einzuschränken.

8.    Die Beauftragten des Bundes und der Länder appellieren an alle Verantwortlichen für und in den Schulen, dass Inklusion eine Aufgabe aller Schulen und aller Schul­arten ist. Nur in gemeinsamer Verantwortung und mit gemeinsamem Handeln wird das große und großartige Vorhaben gelingen, ein inklusives Schulsystem zu schaf­fen und Sonderwelten für Menschen mit Behinderungen zu überwinden.

9.    Wir stellen fest, dass das Recht auf inklusive Bildung für Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention weit über den Bereich der schulischen Bildung hinausgeht und insbesondere die Bereiche frühkindliche Bildung, die berufliche Bildung, das Hochschulwesen, die Erwachsenbildung so­wie alle Bildungsangebote und Bildungseinrichtungen im Sinne des lebenslangen Lernens umfasst.