- Die Wohnungsmisere trifft behinderte Menschen besonders schwer. Auch Broschüren, wie diese, schaffen keine Abhilfe des Problems
Überall das gleiche Bild. Ob Berlin, Frankfurt oder München, in den Städten Deutschlands mangelt es an Wohnraum. Es stehen nicht genug Wohnungen zur Verfügung, gleichzeitig steigen die Mieten ins Unermessliche. Für Personen mit niedrigem Einkommen, zu denen viele behinderte Menschen gehören, ein fast unlösbares Problem.
Lissi* gähnt und streckt sich. Sie arbeitet in einer Behindertenwerkstatt in Berlin-Köpenick. Um 16 Uhr ist endlich Feierabend. Sie fährt mit der Straßenbahn nach Hause. Lissi schließt die Wohnungstür auf und lässt sie laut hinter sich ins Schloss fallen. Ihr erster Weg führt sie in die Küche. Sie nimmt sich eine Flasche ihrer Lieblingslimo aus dem Kühlschrank. Flugs schaltet sie den Computer an. Heute will sie Moorhühner jagen. Sie macht es sich an ihrem Schreibtisch bequem und strahlt über das ganze Gesicht. »Aaaah, zu Hause ist es mir sooo schön«.
Lissi ist seit ihrer Geburt mental beeinträchtigt. Ihre Eltern haben sich eingesetzt, damit sie »ihr eigenes Nest, nach ihren Bedürfnissen bauen und gestalten kann«. So wie Lissi wünschen sich viele behinderte Menschen ihre eigenen vier Wände.
Organisationen wie der Kasseler »Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter« (fab), setzen sich dafür ein, damit dieser Wunsch für viele Behinderte in Erfüllung geht. Der „fab“ fordert die »Abschaffung der Anrechnung des Einkommens und Vermögens behinderter Menschen«. Behinderte sollen nicht »arm werden«, wenn sie den Wunsch nach einer eigenen Wohnung haben.
Die Forderung des »Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB)« lautet: »In den eigenen vier Wänden leben«. Dem BeB geht es darum, dass Menschen mit »hohem Hilfebedarf« von den Behörden nicht auf Heime oder Wohngruppen verwiesen werden. Einen Grund für diese Verfahrensweise sieht der BeB in den »niedrigeren Kosten bei einer Heimunterbringung«.
Erhebliche Mietpreiserhöhungen
Die Broschüre »Die barrierefreien eigenen 4 Wände« soll verschiedene Hilfestellungen geben. Der »Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen«, Hubert Hüppe, gibt sie heraus. »Selbstbestimmtes Wohnen ist ein Menschenrecht, dass allen Menschen zusteht, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht«, so Hüppe. Das Informationsblatt enthält Tipps zur Wohnungssuche, zu finanziellen Hilfen für den Umzug. Wo und wie kann ich Wohngeld beantragen? Was muss ich bei der Wohnungsbesichtigung beachten? Die Broschüre ist als PDF-Datei unter www.behindertenbeauftragter.de erhältlich.
Im Mai erschien der Berliner Mietspiegel für das Jahr 2013. Die Mietpreiserhöhungen sind zum Teil erheblich. In den Außenbezirken steigt der Mietzins besonders stark. Bis zu 9% höhere Mieten für einfache Wohnlagen mit elementar ausgestatteten Wohnungen. Gerade hier leben viele behinderte Menschen. Da sie oftmals Leistungen wie Hartz IV oder geringe Erwerbsminderungsrenten erhalten, sind sie auf die günstigen Mieten in den Randbezirken der Stadt angewiesen.
Am Beispiel Berlin-Karow wird deutlich, warum die Mieten so stark ansteigen. Die Stadt Berlin hat in erheblichem Maße für den »sozialen Wohnungsbau« Subventionen geleistet. In den Jahren 1997/1998 wurde Wohnraum für einkommensschwache Menschen gebaut. Die Fördermittel wurden nach Ablauf der gegebenen Fristen gestrichen, mehrere Immobilien-Fonds standen innerhalb kurzer Zeit vor dem Aus. Dazu kam, dass sich der soziale Wohnungsbau nicht am Mietspiegel orientiert. In diesem Fall kann der Vermieter nach Ablauf der Förderung die sogenannte Kostenmiete fordern. Dies bedeutet, dass Zinsen, Verwaltungskosten für Fremdmittel (Darlehen), Bewirtschaftungs- und Verwaltungskosten und andere Posten in die Miete eingerechnet werden.
Kein Angebot, trotz hoher Nachfrage
Immobilienmakler antworten auf die Frage nach rollstuhlgerechten Wohnungen mit einem Achselzucken. Seniorengerechte, barrierearme Wohnungen haben sie im Angebot. »Die gibt es zur Genüge. Die Hausbesitzer achten immer mehr auf eine barrierearme Ausstattung. Für Rollstuhlfahrer ist derzeit kein Angebot vorhanden“. Mit seniorengerechtem Wohnraum lässt sich neuerdings viel Geld verdienen. Im »MieterMagazin«, herausgegeben vom Berliner Mieterverein, heißt es in der Juni-Ausgabe: »Eine barrierearme Wohnungsgestaltung und das Vorhandensein eines über 40 Quadratmeter großen Wohnraums sind jedoch zu den erhöhenden Merkmalen hinzugekommen«.
Unter der Internetadresse www.rb-wohnungen.de hat das »Landesamt für Gesundheit und Soziales« eine Möglichkeit geschaffen, nach barrierefreien oder barrierearmen Wohnungen zu suchen. Die Ausbeute ist gering. Derzeit stehen in Charlottenburg-Wilmersdorf eine, in Pankow drei Wohnungen zur Verfügung. In den anderen Stadtbezirken sieht es ähnlich aus.
Senioren- und Behindertenverbände bemängeln, dass derartig ausgestattete Wohnungen häufig an Menschen vermietet werden, die sie aufgrund fehlender Behinderungen nicht benötigen. Allerdings verfügen diese Mieter über das Geld für die oft sehr hohen Mieten. Das Einkommen Behinderter ist oft so gering, dass sie sich die Mieten nicht leisten können. Zuschüsse zu beantragen ist zwar möglich, die Hürden sind jedoch hoch. Wohnberechtigungsscheine, diverse Bescheinigungen über Einkünfte oder Vermögensanteile, alles muss belegt werden. Die Bearbeitungszeiten der Behörden sind in manchen Fällen zudem sehr lang.
Wir treffen Vincenz*, er hat Multiple Sklerose und sucht eine neue Wohnung. Er erzählt uns, dass es besser ist, sich persönlich auf den Weg zu den Ämtern zu machen. »Eine Vorsprache vor Ort bringt einen weiter, da erreicht man mehr“. Lange Anfahrtswege und Wartezeiten machen es den Behinderten nicht leicht. Viele kapitulieren vor diesen Hindernissen.
In Deutschland geschieht bereits viel zum Wohl behinderter Menschen. Die Barrierefreiheit ist in der Öffentlichkeit schon an vielen Orten gegeben. Sie sollte nicht vor den Wohnungstüren enden. Wünschenswert wäre eine bessere Unterstützung durch die Politik. Die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention zum Thema „selbstbestimmt Leben“ sollte vorangetrieben werden. Der Traum von den eigenen vier Wänden sollte kein Traum bleiben.
Von Carola Lymants
*Die Namen „Lissi“ und „Vincenz“ wurden geändert.