Lisa Reimann ist Inklusionsexpertin. Sie ging von der ersten Klasse bis zum Abitur an der ersten staatlichen Integrationsschule im deutschsprachigen Raum zur Schule. Anschließend beschäftigte sich Frau Reimann mit Menschenrechten, Inklusion und inklusive Pädagogik. Sie sagt selber über sich:„Behinderung fasziniert und interessiert mich heute nicht. Behinderung ist ein Aspekt von Vielfalt. Mich interessieren Barrieren, die heute gleichberechtigte Teilhabe verhindern.“ Lisa Reimann studierte Pädagogik (Master of Arts).
BBZ: Frau Reimann, wie kamen Sie auf die Idee der Internetseite Inklusionsfakten.de? Was sind Ihre Beweggründe gewesen?
Lisa Reimann: Immer wieder hören wir: „Inklusive Bildung sei zu teuer, das Kindeswohl sei gefährdet oder die Schulleistungen würden sinken.“ Manche sagen auch, dass Inklusion nur bei bestimmten Menschen oder Behinderungen funktionieren würde. Eine völlig absurde Aus- sage, da Inklusion nicht von bestimmten Fähigkeiten abhängig gemacht wird. Ich konnte diese Vorurteile gegenüber guter inklusiver Bildung nicht mehr hören und schrieb Inklusionsfakten – über Mythen und Fakten rund um das Thema inklusive Bildung. Die Argumentationssammlung hat für jedes Vorurteil der Inklusionsskeptiker die passenden Gegenargumente. Denn es gibt viele wissenschaftliche Befunde, die zeigen, wie erfolgreich das Lernen für alle Kinder im gemeinsamen Unterricht ist. Die Sammlung soll helfen, bei der nächsten Inklusionsdebatte gute Argumente parat zu haben. Dabei nehme ich auch die menschenrechtliche Seite und völkerrechtliche Interpretationen in den Blick. Zum Beispiel sagt Theresia Degener, dass die UN-Behindertenrechtskonvention einen viel radikaleren Paradigmenwechsel im Schulsystem erfordert als allgemein angenommen. Artikel 24 verlangt die radikale Abschaffung jeder Form von Segregation im Bildungssystem (vgl. Degener, Bericht aus Genf, Nr.6/2013, S.5). Ein weiterer Beweggrund ist, dass ich selbst Schülerin einer Integrationsschule war und ich Mitschüler mit Behinderung in erster Linie als Mitschüler wahrgenommen habe.
BBZ: Wo sehen Sie in der Gesellschaft das Hauptproblem verankert, wenn es um die Umsetzung von Inklusion geht?
Reimann: Die größte Barriere ist nicht die Stufe, der fehlende Fahrstuhl oder zu wenig Material. Die größten Barrieren sind die Vorurteile. Inklusion steht und fällt mit der eigenen Haltung. Das Gute daran ist: Genauso wie Vorurteile erlernt
werden, können sie auch verlernt werden. Spielen und Lernen schon kleine Kinder mit unterschiedlichen Kindern, entstehen Vorurteile, Ängste oder auch eine merk- würdige Faszination am „Behindertsein“ gar nicht erst. Behinderung wird dann als ein Teilaspekt von Vielfalt wahrgenommen. Deshalb sind inklusive Settings so wichtig. Auch Erwachsene machen die Erfahrung, dass eine Kollegin mit Behinderung oder ein Vereinskumpel im Rollstuhl keine Nachteile für sie haben. Im Gegenteil. Die Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu machen, müssen flächendeckend geschaffen werden.
BBZ: Halten Sie Inklusion in der heutigen Gesellschaft für möglich? Was müsste sich ändern?
Reimann: Entwicklung ist immer möglich und auch nötig. Seit fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Ich glaube: Kein Mensch, der an den Rand gedrängt wird und nicht teilhaben kann, will warten. Leider fehlt in vielen Bereichen der politische Wille auch strukturell etwas zu verändern. Will ich gute inklusive Bildung umsetzen, brauche ich räumliche, sächliche und vor allem personelle Ressourcen. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, haben alle etwas von der Inklusion. Dennoch scheitert es an Mitteln. Der US-amerikanische Psychologe Julian Rappaport sagte: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz.“ Deshalb müssen mehr Mittel zur Verfügung gestellt, Gesetze überprüft und ggf. geändert werden, Aus- und Weiterbildungen Inklusion beinhalten und auf breiter Ebene für Inklusion geworben werden.
BBZ: Was kann, Ihrer Meinung nach, jeder einzelne von uns tun, um den Inklusionsgedanken zu fördern?
Reimann: Ich muss mich mit meiner Haltung auseinandersetzen. Gleichberechtigung zu schaffen heißt auch, dass ich über das Thema Macht nachdenke. Wer hat Kontrolle über wen? Wer definiert was normal ist und was nicht? Wer schließt wen aus? Ich sollte mir darüber bewusst sein, welche Privilegien und welche Nachteile ich und meine Mitmenschen haben. Chancengleichheit heißt nicht, dass alle gleich sind, sondern dass alle die gleichen Möglichkeiten haben – egal welche Hautfarbe, körperliche oder kognitive Ausgangslage oder welches Einkommen ich habe. Einschreiten gegen Diskriminierung zeigt, dass Schutz vor Ausgrenzung wichtig ist. Wenn ich unsicher bin, hilft Nachfragen bzw. das Einbeziehen von Erfahrungen von Interessenvertretungen oder Menschen mit Behinderung.
BBZ: Was würden Sie den Inklusionskritikern abschließend gerne mit auf den Weg geben?
Reimann: Kritisch zu sein und in den Dialog zu gehen, finde ich erst mal gut. Unverständlich ist, wenn wissenschaftliche Studien zum Erfolg der inklusiven Bildung ignoriert werden. Ich empfehle Inklusionskritikern einen Blick nach New Brunswick, einer Provinz in Kanada. Dort gibt es nicht eine einzige Förderschule. Und auch Kanada hat sie – die Kinder mit „Verhaltensproblemen“, Kinder mit Autismus, Kinder mit so genannter schwerer Mehrfachbehinderung. Und Kanada ist PISA-Spitzenreiter. Inklusion und gute Schulleistungen schließen sich nicht aus. Wenn ich erfahre, dass unsere vielen Schubladen und Sonderwelten in der Praxis eher schaden als helfen, dann habe ich begriffen, um was es bei der Inklusion geht.