Vor wenigen Tagen haben die Vereinten Nationen ihre abschließenden
Bemerkungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland
veröffentlicht. Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen, Verena Bentele, sagte dazu heute:
„Jede zweite Frau mit Behinderung wird im Verlauf ihres Lebens Opfer sexualisierter Gewalt und Kinder werden in Schulen noch immer separiert. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen: Auch wenn es schon wirklich gute Entwicklung in Deutschland gibt, es gibt noch viel
zu tun, bis die inklusive Gesellschaft erreicht ist. Diese Defizite stellen auch
die ,Concluding Observations‘ der UN fest. Sie sind eine deutliche Aufforderung
an die Bundesregierung, Bedingungen für eine bessere Teilhabe von Menschen mit
Behinderung zu schaffen. Anstehende Vorhaben, wie beispielsweise das
Bundesteilhabegesetz, müssen nun konsequent im Sinne der Menschen mit
Behinderung vorangebracht werden. Das ist nicht Kür, sondern oberste Pflicht.
Ich werde die Umsetzung der UN-BRK weiterhin kritisch begleiten und mitwirken,
dass Deutschland seine Verpflichtungen konsequent erfüllt.
Die Beauftragte wird dabei besonderes Augenmerk auf folgende Themenfelder legen:
1. Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27 UN-BRK)
Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung zeigt sich besorgt über die Separierung und die hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit und ohne Behinderung. Er fordert Maßnahmen, die den inklusiven Arbeitsmarkt fördern und den Übergang auf den ersten
Arbeitsmarkt erleichtern. Mit Blick auf über 300.000 Werkstattbeschäftigte
fordert Verena Bentele alle Akteure auf, ihre Anstrengungen zu verstärken, um
Alternativen zur Werkstattbeschäftigung zu ermöglichen: „Menschen mit
Behinderung haben genauso wie jeder und jede andere ein Recht darauf, einer
Tätigkeit nachgehen zu können, die den eigenen Wünschen und Bedürfnissen
entspricht. Wer auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten will sollte dies auch
können. Ein wichtiger Ansatzpunkt dafür wäre die flächendeckende Einführung des
Budgets für Arbeit, wie es im Zusammenhang mit dem neuen Bundesteilhabegesetz
auch gefordert wird.“
Auf Anregung der Beauftragten wird das Bundesministerium
für Wirtschaft und Energie zudem eine Studie zum Thema „Inklusion in der dualen
Berufsausbildung“ beauftragen.
2. Gewaltschutz von Frauen mit Behinderung (Artikel 6 UN-BRK)
Der Fachausschuss zeigt sich ebenfalls „besorgt über die
ungenügenden Maßnahmen, um Mehrfachdiskriminierungen vorzubeugen oder zu
bekämpfen“. Eine Studie des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen
und Jugend aus dem Jahr 2012 offenbart, dass jede zweite Frau mit Behinderung in
ihrem Lebensverlauf sexualisierte Gewalt erfährt. Aus Sicht der
Behindertenbeauftragten müssen aus diesem Grund dringend spezielle Programme
aufgesetzt werden: „Wir brauchen ein flächendeckendes Angebot von
,Empowerment‘-Kursen, um Mädchen und Frauen die Möglichkeit zu geben,
Selbstvertrauen aufzubauen. Außerdem ist für mich unverständlich, warum es in
Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht auch standardmäßig Frauenbeauftragte
gibt.“ Ein zentraler Punkt in dieser Legislaturperiode ist auch die anstehende
Reform des Sexualstrafrechts. Die Beauftragte fordert, die sexuelle
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen und die
Ungleichbehandlung von sogenannten widerstandsunfähigen Opfern aufzuheben. Diese
Forderung wird unterstrichen durch ein Positionspapier des Inklusionsbeirats,
der bei der staatlichen Koordinierungsstelle angesiedelt ist und dem die
Behindertenbeauftragte vorsitzt.
3. Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29 UN-BRK)
Menschen, bei denen eine Betreuung in allen
Angelegenheiten angeordnet ist oder die im Rahmen eines Maßregelvollzugs in
einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, haben in Deutschland kein
Wahlrecht. Der UN-Ausschuss stellt klar, dass dieser Ausschluss einen klarer
Verstoß gegen Artikel 29 der UN-BRK darstellt. Darüber hinaus wurden Barrieren
bei der Ausübung des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung moniert. So werden
„angemessene Unterstützungsmechanismen“ empfohlen.
„Das allgemeine Wahlrecht ist Grundlage unserer Demokratie und ein Menschenrecht. Ich fordere die sofortige Abschaffung des Wahlrechtsauschlusses, damit spätestens zur
Bundestagswahl 2017 alle Menschen teilnehmen können“, so Verena Bentele. Aus
Sicht der Behindertenbeauftragten wären darüber hinaus Informationen in leichter
Sprache oder auch flächendeckende Barrierefreiheit beim Zugang zu Medien und
Internet notwendig, um politische Teilhabe zu erleichtern.
4. Achtung der Wohnung und der Familie (Artikel 23 UN-BRK)
Die Kritik des Ausschusses zu diesem Punkt lautet: In Deutschland erhalten Eltern mit Behinderung nicht genügend Unterstützung, um ihre Kinder allein großzuziehen oder ihre Rechte als
Eltern auszuüben. „Das Recht auf Familie ist jedoch ein grundlegendes
Menschenrecht. Damit die begleitete Elternschaft für alle Menschen mit
Behinderung möglich wird, brauchen wir auf Bundesebene klare Festlegungen. Mir
ist besonders wichtig, dass wir im Rahmen eines neuen Bundesteilhabegesetzes
dieses Thema mit einem Passus ,Elternschaft‘ regeln“, so Verena Bentele.
5. Kinder mit Behinderung (Artikel 7 UN-BRK)
Der Fachausschuss kritisiert auch die mangelnde Chancengleichheit von Kindern mit Behinderung und dass Eltern nicht frei über Art der Bildung und Dienstleistungen für ihr Kind entscheiden
können. Derzeit ist beispielsweise für seelisch behinderte Kinder und
Jugendliche das Jugendhilferecht zuständig, geistig und körperlich behinderte
Kinder erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe – und damit von den
Sozialämtern. Letzteres hat direkte Auswirkungen auf die finanzielle
Gesamtsituation der Familie. Die Position der Beauftragten ist, dass die Art des
Unterstützungsbedarfs nicht darüber entscheiden darf welche Leistungen für
Kinder und Jugendliche zur Verfügung stehen. „Kinder und Jugendliche sind in
erster Linie Kinder und sollten nicht in verschiedene Schubladen gesteckt
werden! Sie alle müssen die gleichen Chancen bekommen“, so Bentele.
6. Inklusive Bildung (Artikel 24 UN-BRK)
Der Ausschuss beanstandet, dass die Mehrheit der Kinder mit Behinderung noch immer separiert werde, das heißt in Förderschulen beschult. Die Experten empfehlen, so schnell wie möglich
„Strategien, Aktionspläne, einen Zeitplan und Ziele“ zu formulieren, um den
Zugang zu hochwertiger inklusiver Bildung in allen Bundesländern zu
gewährleisten. Gemeinsam mit den Landesbehindertenbeauftragten forderte Verena
Bentele dies schon mehrfach – unter anderem in der Stuttgarter Erklärung vom
November 2014. Sie sagte vor dem UN-Ausschuss in Genf: „Die Zuständigkeit der
einzelnen Länder für alle Fragen der schulischen und der Hochschulbildung führt
zu großen Unterschieden bei der Umsetzung des Artikels 24. Hier müssen
gemeinsame Standards geschaffen werden, etwa bei der Frage der Diagnostik und
der Zuweisung von Ressourcen. (.) Klar ist in meinen Augen: Qualitativ
hochwertige Bildung kostet Geld! Aber dieses Geld ist eine Investition in die
Zukunft. Assistenz, Hilfsmittel und Lernmittel müssen für alle verfügbar
sein.“
Um die Umsetzung der Empfehlungen weiter voranzutreiben, wird die
Behindertenbeauftragte am 24. Juni 2015 gemeinsam mit der Monitoring-Stelle eine
Follow-up-Konferenz zu den abschließenden Bemerkungen durchführen. Dort sollen
in hochrangiger fachlicher Besetzung die Konsequenzen der UN-Empfehlungen für
Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung diskutiert werden.
