Laut WHO sind die Zahlen behandlungswürdiger psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Burnout und Depressionen, aber auch Psychosen oder Sucht werfen immer mehr Menschen zeitweise oder auch dauerhaft aus der Bahn. Dass es jeden treffen kann, ist inzwischen fast eine Binsenweisheit. Dennoch ist der Umgang mit den Erkrankten von Vorurteilen, Scheu und Ängsten geprägt. Schnell stehen die Betroffenen und auch deren Angehörige im Abseits. Eine Berliner Dokumentarfilmerin gibt den Betroffenen ein Gesicht und zeigt die Menschen hinter der Diagnose.
Zum ersten Mal begegne ich Andrea Rothenburg Ende November 2016 auf einer psychiatrischen Fachtagung im City Cube des ICC. Sie steht am Infostand ihrer Produktionsfirma DIADOK und informiert interessierte Teilnehmer und Gäste der Tagung über ihre aktuelle Kampagne, in der die Kinder von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung im Mittelpunkt stehen. Ein ungewöhnlicher Anblick am Stand ist der Puppenwagen mit den kunterbunten Stofftieren. Es sind „Sorgenfresser“, erläutert die Regisseurin immer wieder geduldig. Die handgefertigten Stofftiere werden verkauft und in Kliniken verteilt, wo sie Kindern von Patienten zeigen sollen, dass sie gesehen werden. Denn dass es bislang selten so ist, zeigt ihr aktueller Film „Wo bist du? – Kinder psychiatrieerfahrener Eltern im Fokus“, der hier vor Psychiatern, Ärzten, Betroffenen und Angehörigen Premiere hat.
Andrea Rothenburg ist Filmemacherin aus Überzeugung und dreht seit etwa zehn Jahren sogenannte Interviewfilme. Und diese Filme sind besonders.
Konsequent stehen die Betroffenen selbst im Mittelpunkt. Die Regisseurin hört man im Film nicht, auch nicht die Fragen, die sie stellt. Rothenburgs Filme sind Collagen aus Antworten, Gedanken, Stimmungen und Momentaufnahmen ihrer Protagonisten, die sie oftmals über Monate oder auch Jahre begleitet. Die Aussagen von Ärzten, Therapeuten und Angehörigen komplettieren den Gedankenstrom, ohne zu sehr im Mittelpunkt zu stehen. Es ereignen sich berührende und traurige Momente in den Interviews. Es fließen Tränen, jemand verstummt und die Kamera bleibt auf den Gesichtern. In den gefilmten Gesprächen werden die Pausen nicht gefüllt, wird nichts schnell geschnitten. Irgendwo im Hintergrund sitzt Andrea Rothenburg und hört zu. Und hält die langen Pausen aus. Und mutet sie auch ihren Zuschauern zu. Lässt man sich darauf ein, kommt man den Menschen im Film berührend nah.
„Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, ist das immer mit seiner Lebensgeschichte verknüpft. Diese Geschichten sind besondere Geschichten, die gehört werden wollen.“
Andrea Rothenburg dreht ihre Filme aus zwei Gründen. Zum einen, „um der Gesellschaft die Ängste zu nehmen und die tollen Menschen hinter der Erkrankung zu zeigen“. Zum anderen sollen sich die Strukturen im System ändern. Im Klinikalltag, in der Gesundheitspolitik, in der Prävention und in der Re-Integration von Menschen, die durch eine psychische Erkrankung aus dem System fallen. Zeitweise, aber manchmal auch länger oder dauerhaft.
Den ersten Gesprächspartner – damals für einen Radiobeitrag – vermittelte ihr noch ihr Vater. Sie wollte etwas zu Cannabis und Psychose machen und ein junger Mann mit Paranoia erklärte sich bereit, mit ihr zu sprechen. Und da wurde ihr zum ersten Mal bewusst, was es für den Betroffenen bedeutet, seine Geschichte zu erzählen und wie sehr es ihm hilft, gesehen zu werden. Aus dem kleinen Audiobeitrag entwickelte sie ein prämiertes Theaterstück und danach schlug sie den Weg zum dokumentarischen Film ein. Von Beginn an war ihr klar, dass es keine ‚schnellen’ Filme werden und sie sich für ihre Protagonisten viel Zeit nehmen würde. Und sie begegnet den Menschen vorurteilsfrei und auf Augenhöhe. Das merkt man den Filmen an und spürt es, wenn man sie im Gespräch mit Betroffenen erlebt.
„Ich hab lieber in Psychiatrischen Kliniken Fasching gefeiert, als im Kindergarten“
Berührungsängste kennt sie selber nicht. Schon früh hatte sie Kontakt zu Menschen mit psychischen Erkrankungen, erklärt Andrea mir bei unserem ersten Gespräch noch auf der Tagung, denn ihr Vater war leitender Arzt einer psychiatrischen Klinik und als Kind hat sie heimlich Fallberichte gelesen, die sie spannender fand als die gängige Kinder –und Jugendliteratur. Die abfällige Betitelung dieser Menschen als „Bekloppte“ hat sie schon als junger Mensch empört. Und auch diese Empörung treibt sie bis heute an.
Dabei geht es ihr nicht darum anzuklagen. Ganz im Gegenteil. Sie versucht mit positiver Energie an alles heranzugehen. Nicht böse zu werden, wenn sie Missständen, Gleichgültigkeiten oder Versäumnissen begegnet. Sie will weder Ärzte noch Verantwortliche verschrecken. Es geht ihr um den Dialog. Um Anregungen und um ein gemeinsames Ausloten von Möglichkeiten zur Verbesserung des Status Quo. Vorwürfe oder anklagender Aufdeckungsjournalismus wären da kontraproduktiv, obwohl es Andrea Rothenburg manchmal schwer fällt, guten Mutes zu bleiben. Das gilt besonders für ihre aktuelle Kampagne zugunsten der Kinder von psychisch Kranken, denn diese haben ein hohes Risiko selber zu erkranken. Entsprechend wichtig und umsichtig wäre eine präventive Hinwendung zu diesen Kindern in Form einer stützenden, stabilisierenden Betreuung in einem verständnisvollen Umfeld.
Folgerichtig ist das langfristige Ziel ihrer aktuellen Kampagne die Implementierung verbindlicher Richtlinien in Kliniken, die den Umgang mit Kindern psychiatrisch erkrankter Eltern sinnvoll regeln. Kein Kind darf durchs Raster fallen und alleingelassen werden mit seinen Sorgen und Nöten. Und wenn es Vorgaben gibt, hängt es nicht mehr nur von Glück oder dem guten Willen Einzelner vor Ort ab, ob ein Kind rechtzeitig aufgefangen wird, argumentiert sie.
„Ich gehe in die Öffentlichkeit, weil ich etwas bewegen will. Nicht, weil ich gesehen werden will, aber ich weiß, dass ich die Themen gut transportieren und auf den Punkt bringen kann.“
Auf der Tagung hebt der Applaus nach der Filmvorführung stetig an und will lange nicht enden. Die anschließende Diskussion mit Ärzten, Psychiatern und Gästen ist konstruktiv und von großem Verständnis und dem Wunsch geprägt, Lösungen zu finden. Andrea Rothenburg steht dabei als Moderatorin auf der Bühne und man spürt, dass sie mit jeder Faser für ihr Thema brennt. Das muss auch so sein, sagt sie, damit sie die Leute erreichen kann. Wie sie es schafft, dabei nicht auszubrennen? Was erdet sie und wo kommt sie zur Ruhe, will ich bei unserem abschließenden Telefonat noch wissen.
Manchmal ist es schwierig abzuschalten, räumt sie ein, und dass sie manche Geschichte mitnimmt und versuchen muss, sich abzugrenzen. Dennoch ist es tatsächlich auch ihre Arbeit selbst, die sie erdet, weil sie ihr das Gefühl gibt, etwas Positives und Sinnvolles zu leisten.
Wenn sie konkret abschalten will, dann geht sie laufen. Wenn sie läuft, wird der Kopf wieder frei und manchmal entstehen dann die besten Ideen. Eine dieser Ideen war eben die Kampagne, die im Herbst startete und ein regelrechter Selbstläufer geworden ist. Sie ist soviel unterwegs, dass ihr aktueller Film „Endlich trocken – Wege aus der Sucht“ über alkoholkranke Menschen und die Berliner Begegnungsstätte ALTAS mit dreimonatiger Verspätung fertig wird.
Die Schrauben, an denen sie dreht, werden größer. Richtlinienentwürfe zum Umgang mit den Kindern sind in Arbeit, die großen psychiatrischen Gesellschaften und Verbände diskutieren konkrete Umsetzungsmöglichkeiten und vielleicht werden schon zur nächsten Tagung erste Veränderungen im Klinikalltag umgesetzt sein. Das ist den Betroffenen und Andrea Rothenburg zu wünschen. Denn es sind auch die konkreten Erfolgserlebnisse, die Menschen wie sie weitermachen lassen.
Andrea Rothenburgs Filme sind im Buchhandel, bei amazon und bei DIADOK direkt zu beziehen.
Infos unter www.psychiatrie-filme.de
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