Was für ein Leben – oder ist das schon die Midlife-Crisis?

von: Dr. Martin Theben

xIch werde in diesem Jahr 46 und während ich diesen Text schreibe, kommt es mir so vor, als würde ich meine Memoiren zu Papier bringen. Sind das schon erste Anzeichen der Midlife-Crisis? Eigentlich geht es nur darum in dieser Ausgabe rückblickend behindertenpolitisch bedeutsame Ereignisse im Kontext meines eigenen Lebens darzustellen.

In diesem Artikel kann hier natürlich nur ein verkürzter Rückblick erfolgen. Nun denn:

Ich wurde am 8. September 1969 im damaligen West-Berlin geboren. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) verkündete, er wolle künftig mehr Demokratie wagen und sprach damit nach den Erfahrungen der Studentenunruhen des Jahres 1968 sicher vielen Deutschen aus dem Herzen. Aus heutiger Sicht war die behindertenpolitische Situation damals betrüblich. Menschen mit Behinderungen wurden in Sonderkitas betreut, Sonderschulen unterrichtet, in sog. geschützten Werkstätten oder Berufsbildungswerken beschäftigt und lebten entweder – bisweilen – ins hohe Alter bei ihren Eltern oder in Heimen. Der Arbeitsmarkt und der öffentliche Raum waren vielen weitestgehend verschlossen. Auch ich besuchte eine Kindertagesstätte der Spastikerhilfe im Prettauer Pfad in Lichterfelde. Jeden Morgen wurde ich von einer Mercedes-Limousine an meinem Wohnort in Berlin-Wittenau abgeholt und quer durch die Stadt zum Kindergarten gefahren. Mein älterer Bruder hingegen besuchte die Kita direkt gegenüber unserer Wohnung. Meine Grund- und Realschulzeit verbrachte ich ebenfalls an einer Sonderschule. Allerdings handelte es sich hier quasi um eine Inklusions-Light-Version, da die Räumlichkeiten in einer allgemeinen Grundschule untergebracht waren. Der Kontakt zu nicht behinderten Schülern, ließ sich da gar nicht vermeiden.

Meine sehr engagierte Sonderpädagogin an der Realschule war der Ansicht, dass mein bester Freund Michael und ich durchaus das Zeug dazu hätten, Abitur machen zu können. Nach der gesetzlichen Lage im damaligen Berliner Schulrecht war es für Menschen mit Behinderungen nicht möglich, an einer allgemeinen Schule unterrichtet werden zu können. Trotzdem gelang es, uns beide an einem allgemeinen Gymnasium, der Menzel-Oberschule in Berlin Tiergarten, zu „platzieren“. Diese Schule erfüllte auch die baulichen Voraussetzungen, um Rollstuhlfahrer aufnehmen zu können. Hier begann meine Reifeprüfung. Denn ich musste mich erstmals direkt in einem überwiegend nicht behinderten Umfeld bewähren.

Die wesentlichen behindertenpolitischen Ereignisse, insbesondere die Proteste während des UNO-Jahres der Behinderten 1981, habe ich schon aus Altersgründen nicht wahrgenommen. Es war gleichwohl rückblickend eine für die Beteiligten aufregende und aus heutiger Sicht auch bedeutsame Zeit. Schon die Eröffnungsveranstaltung im Januar war von massiven Protesten begleitet, an denen unter anderem Horst Frehe, später Mitglied im Forum behinderter Juristen und Senatsrat in Bremen, Theresa Degner, die bekanntlich die deutsche Delegation bei den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention geleitet hat oder der zwischenzeitlich verstorbene Krüppelaktivist Franz Christoph beteiligt gewesen sind. Franz Christoph war es, der am 18. Juni 1981 den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens mit seiner Krücke zweimal „berührt“ hatte. Ziel dieser Aktion während der damaligen Reha-Messe in Düsseldorf war es, zu verdeutlichen, dass Protest von Betroffenen auch dann nicht wahrgenommen wird, wenn er sich gewaltsam äußert. Franz Christoph sollte Recht behalten, denn noch mehrere Stunden nach der Tat konnte er sich in der Halle frei bewegen und den anwesenden Journalisten seine Sicht der Dinge in die Notizblöcke diktieren.
Meine behindertenpolitische Reifeprüfung begann ebenfalls während meiner Gymnasialzeit. Als junger Spund, kam ich 1988 zum Spontanzusammenschluss. Hier hatten sich überwiegend mobilitätsbehinderte Betroffene ein Jahr zuvor aus Protesten gegen die drastische Kürzung der Fahrten beim Telebus zusammengefunden. Ausgerechnet im Jahr des 750-jährigen Stadtjubiläums war den Nutzern dass sie statt künftig 50 nunmehr nur noch 24 Fahrten durchführen könnten. Diese Ankündigung führte zur Gründung des Spontanzusammenschlusses „Mobilität für Behinderte“, der in der Folge einer ganzen Reihe von öffentlichkeitswirksamen Protesten durchführte. Hierzu gehörte auch, dass sie ihre Teilnahme an der offiziellen Festveranstaltung im Berliner ICC „erzwingen“. Im Jahre 1988, befasste man sich neben dem Telebus und dem Ringen um einen barrierefreien öffentlichen Nahverkehr auch mit dem Thema barrierefreies Bauen.
Das Jahr 1990 war in vieler Hinsicht ein besonderes: Deutschland wurde Fußballweltmeister und ich machte das Abitur. Ach ja, und dann wurde am 3. Oktober 1990 auch noch die staatliche Einheit Deutschlands durch den Beitritt der ehemaligen DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzogen. Im Osten gründete sich jetzt auch eine kraftvolle Behindertenbewegung, insbesondere mit dem Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland und natürlich dem Berliner Behindertenverband. Letzterer kooperierte jetzt eng mit den Spontis. Ich selbst nahm im Jahre 1991 ein Studium an der Fachhochschule für Sozialarbeit (heute Alice Salomon Hochschule) auf. Hier stieß ich auf weitere Barrieren, denn diese Hochschule, die ja Menschen ausbildete, die später auch Behinderte zu ihren Klienten zählte, war selbst für behinderte Studierende im Rollstuhl nicht zugänglich. Nun begann meine zweite behindertenpolitisch aktive Phase, indem ich mich der Interessengemeinschaft behinderter Studierender anschloss. Fortan setzte ich mich nicht nur an meiner eigenen Hochschule für Barrierefreiheit in den Gebäuden und in den Köpfen der Wissenschaftler ein. Gemeinsam mit anderen Aktiven gründeten wir an der Fachhochschule das Tutorium „Wer behindert wen?“ und sorgten unter anderem dafür, dass künftig auch behinderte Lehrbeauftragte Studierende mit den Erfahrungen der emanzipatorischen Behindertenbewegung vertraut machen konnten.

Mit Einführung der Pflegeversicherung folgt dann ein drittes behindertenpolitisch wichtiges Thema. Ich stieß auf das Bündnis „Selbstbestimmt Leben“. Es hatte sich unter anderem gegründet, um die mit Einführung der Pflegeversicherung geplante Abrechnung von Leistungen ambulanter Pflegedienste nach sog. Modulen (verrichtungsbezogene Einheiten) abzuwehren. Denn dies hätte gerade für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, wie sie insbesondere von dem durch Betroffene selbst gegründeten ambulanten Diensten unterstützt wurden, erhebliche Probleme bereitet. Es gelang den Betroffenen aber nach vielen Protesten und langwierigen Verhandlungen, den heute immer noch wirksamen sog. Leistungskomplex 32 als besonderes Abrechnungsmodul zu etablieren.

Ein weiteres Thema war in diesem Zusammenhang auch der im Bundessozialhilfegesetz noch heute existierende Mehrkostenvorbehalt für die Unterstützung im ambulanten Bereich. Konkret verdeutlichte sich dieses Problem an der Geschichte von Anne-Marie Stickel. Sie plante damals aus der Fürst-Donnersmarck-Stiftung in eine eigene Wohnung zu ziehen und sich von den ambulanten Diensten unterstützen zu lassen. Sie wählte eine Wohnung in Spandau, jedoch verweigerte der Bezirk unter Hinweis auf den Mehrkostenvorbehalt im Bundessozialhilfegesetz (konkret damals § 3a BSHG) die Kostenübernahme. So kam es in der Woche vor Pfingsten des Jahres 1998 zu einer dreitägigen Besetzung des Rathaus Spandau. Dieses Ereignis gehört sicherlich zu den prägendsten Erlebnissen meines behindertenpolitischen Engagements.

Bei der Interessengemeinschaft behinderter Studierender lernte ich dann auch meine spätere Frau und Kollegin Bettina Theben kennen. Mit ihr gemeinsam setzte ich mich zusammen in Berlin für das Landesgleichberechtigungsgesetz und später auf Bundesebene als Mitglieder des Forums behinderter Juristen für bundeseinheitliche Antidiskriminierungsregelungen ein. Bettina Theben und Marlies Blersch von der Beratungsstelle für behinderte Studierende des Studentenwerks waren es übrigens auch, die mich gemeinsam in einer legendären „Nachtsitzung“ davon überzeugten, nach dem Sozialarbeits- noch ein Jurastudium zu absolvieren. Nach Abschluss dieses Studiums gründeten Bettina Theben und ich dann im Jahre 2004 unsere Kanzlei Rechtsanwälte Dr. Theben. Nun versuchen wir uns in Einzelfällen gemeinsam mit anderen behinderten Kolleginnen und Kollegen in Deutschland für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stark zu machen.

Rückblickend möchte ich all die behindertenpolitischen Erfahrungen, die natürlich auch mit so manchem Nackenschlag verbunden waren, nicht missen.

 

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