Berlin nach den Wahlen

Wir müssen die Stadt aus den Augen der Bürger sehen

von: Dominik Peter

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Raed Saleh ist SPD-Fraktionsvorsitzender und sprach mit der BBZ.

Nach der Wahl ging Raed Saleh (SPD-Fraktionsvorsitzender) schonungslos mit seiner Partei um. Öffentlich benannte er Fehlentwicklung innerhalb der SPD – sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene. Mit Raed Saleh sprach Dominik Peter über das Wahlergebnis, seine Standpunkte, geplante Gesetzesänderungen und angedachte Bundesratsiniativen.

Dominik Peter: In Ihrer Wahlanalyse halten Sie Ihrer Partei den Spiegel vor und sagen: „Es gab eine Spaltung zwischen der politischen Blase sowie der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger“. Was meinen Sie damit genau?

Raed Saleh: Man muss sehen, dass in der Landespolitik der letzten Jahre immer wieder Erfolgsmeldungen die Runde machten: hohes Wirtschaftswachstum, mehr Jobs, mehr Einwohner. Aber die Kehrseite ist zu oft hinten runtergefallen: Viele Arbeitsplätze sind unsicher und schlecht bezahlt, das Wachstum der Wirtschaft kommt nur bei wenigen an. Die Mieten steigen aber für alle. Wenn die Politik sich für die Erfolge der Stadt feiert, dann muss das für manche Bürger wie Hohn geklungen haben. Das meine ich mit Lebenswirklichkeit. Wir müssen die Stadt aus den Augen der Bürgerinnen und Bürger sehen und weniger aus der Perspektive der Verwaltung.

Dominik Peter: Sie gehen auch hart mit ihrer Partei im Bund um. Sie sagen die Mietpreisbremse sei unwirksam und eine Erbschaftssteuer mit Ausnahmen für Superreiche gehöre Ihrer Meinung nach nicht zu der Haltung, die eine SPD vertreten sollte. Jetzt plant die Bundes-SPD auch noch ein Bundesteilhabegesetz (BTHG), das den Zorn der Behindertenbewegung herauf beschwört. Viele Sozial- und Behindertenverbände verbände lehnen den Entwurf ab. Viele Demonstrationen sind derzeit die Folge. Gehört das BTHG auch zu ihrer Kritik?

Raed Saleh: Ein bundeseinheitliches Gesetz für eine bessere Teilhabe von Menschen mit Behinderung halte ich für sehr wichtig. Der Gesetzesentwurf, der zurzeit im Bundestag beraten wird, kann aus meiner Sicht nur eine Basis für gute Beratungen sein. Die Bedenken, die es gegenüber dem Gesetzesentwurf seitens der Betroffenen gibt, nehme ich sehr ernst. Es darf keine Verschlechterungen für Betroffene geben. Ich weiß, dass dies auch die Haltung in der SPD-Bundestagsfraktion ist. Die SPD-Fraktion im Bundestag will in der parlamentarischen Beratung des Gesetzes Verbesserungen erreichen, z. B. die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege und Pflegekassen gut zu regeln. Weitere zentrale Punkte: Menschen mit geistiger Behinderung sollen mehr vom Einkommen behalten und mehr Vermögen bilden können, Menschen mit Behinderungen sollen selbst entscheiden können, wo und wie sie leben. Meine Meinung ist: Entweder wir kriegen ein Gesetz, das Verbesserungen bedeutet, oder besser gar kein Gesetz. Die Bundes-SPD sollte sich nicht auf einen faulen Kompromiss mit der CDU einlassen.

Dominik Peter: Nun zur Landespolitik. Ist es nicht irrsinnig, ein bestehendes und gutfunktionierendes Toilettensystem umzukrempeln – damit meine ich die 172 barrierefreie City-Toiletten der Firma WALL in der Stadt – nur um ein paar Euros einzusparen? Können Sie verstehen, dass Behinderte in Berlin nur noch den Kopf schütteln über soviel Unverständnis.

Raed Saleh: Der Vertrag für öffentliche Toiletten wird neu ausgeschrieben, weil man zu einer landesweit einheitlichen Regelung kommen möchte. Ich sage ganz klar: Selbstverständlich muss es weiterhin ein barrierefreies, gut funktionierendes Toilettensystem geben! Das gehört für uns zur öffentlichen Infrastruktur. Dabei dürfen weder an der Zahl der Toiletten noch an der Barrierefreiheit Abstriche gemacht werden.

(Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu folgende Artikel zu diesem Thema: 25 Jahre & Senatsverwaltung.)

Dominik Peter: Herr Saleh, neulich wurden Sie in der Berliner Zeitung zitiert, Sie hätten im Wahlkampf den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen mit der SPD hadern. Diesen Eindruck hatte ich auch: Viele Behinderte waren beispielsweise mit der Novellierung der Bauordnung nicht einverstanden und wählten daher die SPD dieses Mal nicht?

Raed Saleh: Ich verstehe die Erwartung, dass die Barrierefreiheit von Wohnungen schneller erreicht werden sollte. Die Novelle der Bauordnung bedeutet für die Barrierefreiheit in Berlin einen wichtigen Fortschritt, Berlin hat sich damit den am weitesten gehenden Zielen aller 16 Bundesländer verpflichtet: Die Anforderungen an barrierefrei nutzbare Wohnungen wurden verschärft, z. B. hinsichtlich der Breite der Wohnungstür, der Bewegungsflächen und der Dusche. Außerdem muss ab 2020 die Hälfte der Wohnungen barrierefrei nutzbar sein. Mit der Rechtsverordnung zur Novelle der Bauordnung soll die Barrierefreiheit weiter verbessert werden.

Für die nächste Legislaturperiode haben wir uns weitere Verbesserungen der Barrierefreiheit vorgenommen: Wir werden die Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden vorantreiben und den Bau barrierefreier Wohnungen forcieren. Wir wollen, dass der Umbau im Bestand und auf Wegen zu Wohnungen leicht stattfinden kann und dass dieser auch bei einem Mieterwechsel bestehen bleibt. Einmal abgeschaffte Barrieren dürfen nicht wieder aufgebaut werden. Die SPD setzt sich darum für eine Bundesratsinitiative für eine Änderung des Wohneigentums- und des Mietrechts ein.

Dominik Peter: Was meinen Sie damit, wenn Sie ebenfalls analysieren, dass die SPD immer auf der Seite der Bürger stehen muss und einflussreichen Lobbys den Kampf ansagen. Ist dies eine Spitze gegen Senator Geisel gewesen? Er war schließlich für die neue Bauordnung verantwortlich.

Raed Saleh: Die SPD darf nie den Eindruck erwecken, die Interessen von finanzstarken Eliten zu vertreten, sondern muss immer gegen Ungerechtigkeiten und gegen Diskriminierung kämpfen. Das muss unsere DNA sein, wenn wir in Zukunft wieder Glaubwürdigkeit zurückgewinnen wollen. Es geht also nicht darum, Spitzen gegen einzelne Personen zu setzen, sondern die Gemeinwohlorientierung in den Vordergrund zu rücken.

Dominik Peter: Herr Saleh, herzlichen Dank für das Gespräch.