Für eine „inklusive Gesellschaft“ – siehe UN-BRK und Nationaler Aktionsplan 2011 – ist der barrierefreie Zugang zur physischen Umwelt eine Grundvoraussetzung. Doch trotzdem die bauliche Barrierefreiheit seit Jahren normiert und vollumfänglich beschrieben ist (DIN), sind die entsprechenden Normen bis heute durch das Baurecht nur teilweise verbindlich. Bei einem allein schon für Berlin bestehenden Defizit von beispielsweise über 40.000 barrierefreien Wohnungen (Demografiekonzept), führen alle weiteren Verzögerungen und Halbherzigkeiten zur Herstellung von Barrierefreiheit die Inklusionsbemühungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Ausbildung, Arbeit, Freizeit, Kultur, politische Beteiligung etc.) ad absurdum.
Die Bauordnung betrifft allerdings selbst in punkto Barrierefreiheit keineswegs nur Menschen mit Behinderung in besonderem Maße, sondern auch die rasant wachsenden Gruppen der Senioren und Hochbetagten. Aus diesem Grund ist es u.E. unbedingt geboten, bei einer Novellierung der Berliner Bauordnung nicht nur die UN-BRK und den Nationalen Aktionsplan in die Diskussion einzubeziehen, sondern auch das vom Senat verabschiedete Demografiekonzept, sowie das vom Senat herausgegebene Handbuch „Design for all“ (s.u.).
Einige wichtige Punkte dieser Gesetze, Aspekte und politischen Willenserklärungen, die für eine geplante Novellierung der Bauordnung von besonderer Bedeutung sind, werden im folgenden auszugsweise wiedergegeben und sind Bestandteil unserer Standpunkte (siehe Kapitel „Standpunkte zum Referentenentwurf“ weitere unten).
Abschließend begründen wir in Punkt 1.4., warum eine „Verschlankung“ der Bauordnung durch die weitere Auslagerung konkreter Maße etc. in die Technischen Baubestimmungen einen verheerenden Rückschritt in punkto Barrierefreiheit darstellt.
Kapitel 1 „Wichtige Aspekte, Gesetze und politische Willensäusserungen“
1.1. Demographischer Wandel
Fakten (Quelle Demografiekonzept/LBB):
* 10% der Bevölkerung sind auf Barrierefreiheit dringend angewiesen
* 40% brauchen Barrierefreiheit als notwendige Unterstützung
* 100% schätzen Barrierefreiheit als Komfortverbesserung
Schon heute fehlen rund 41.000 barrierefreie Wohnungen.
Tendenz: Eine starke Zunahme fehlender barrierefreier Wohnungen ist anzunehmen.
Am 30.06.2009 hat der Berliner Senat das sogenannte Demografiekonzept beschlossen. In diesem Konzept wird festgehalten, dass die Alterung der Gesellschaft eine der größten Herausforderungen des Landes Berlin darstellt. Der Senat hat dementsprechenden Anpassungsbedarf in den einzelnen Politikfeldern ausgemacht. Eines der Politikfelder, das besonderen Augenmerks bedarf, ist demnach die Stadt- und Infrastrukturplanung.
Konkretisiert wird dies wie folgt: „Die zukünftigen Handlungsfelder der Stadtentwicklung im weiteren Sinne werden daher sein: stärkere Ausrichtung der kommunalen Planung auf die Bedürfnisse von … Senioren im Sinne einer … generationengerechten Stadt.“
Wie drängend der Anpassungsbedarf ist, zeigen die Daten auf, die im Demografiekonzept gleich mitgeliefert werden: „Das Leben der Menschen ist durch eine 3. und 4. Lebensphase gekennzeichnet. Den sogenannten jungen Alten (65 bis unter 80 Jahre) steht nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben ein erhebliches zusätzliches Zeitpotenzial zur Verfügung.(…) In dieser Altersgruppe wird es zwischen 2007 und 2030 eine Zunahme um 14 Prozent auf dann 563.000 Personen geben. Die Zahl der Hochbetagten, über 80-Jährigen, wird im gleichen Zeitraum um circa 87 Prozent auf 256.000 ansteigen.“
1.2. UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
Die UN-BRK wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und greift auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sowie auf die wichtigsten Menschenrechtsverträge zurück. Das Übereinkommen erfindet dabei keine „neuen“ Menschenrechte für Behinderte, sondern spezifiziert lediglich die Universellen Menschenrechte konsequent aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung und vor dem Hintergrund ihrer Lebenslagen. Die UN-BRK verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu konkreten Maßnahmen, um Menschen mit Behinderung in die Lage zu versetzen, ihre Universalen Menschenrechte ebenso ausüben zu können, wie Menschen ohne Behinderung.
Aus der UN-BRK sind für die Diskussion um eine anstehende Novellierung der Berliner Bauordnung folgende Paragrafen wichtig und sollten daher mit in eine Diskussion einbezogen werden.
§ 4 „Allgemeine Verpflichtungen“
(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten,
b) alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen;
§ 9 „Zugänglichkeit“
(1) Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschließen, gelten unter anderem für
a) Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten;
b) Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.
(2) Die Vertragsstaaten treffen außerdem geeignete Maßnahmen,
a) um Mindeststandards und Leitlinien für die Zugänglichkeit von Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, auszuarbeiten und zu erlassen und ihre Anwendung zu überwachen;
b) um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen;
c) um betroffenen Kreisen Schulungen zu Fragen der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen anzubieten;
d) um in Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offen stehen, Beschilderungen in Brailleschrift und in leicht lesbarer und verständlicher Form anzubringen;
e) um menschliche und tierische Hilfe sowie Mittelspersonen, unter anderem Personen zum Führen und Vorlesen sowie professionelle Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen, zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, den Zugang zu Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offen stehen, zu erleichtern;
f) um andere geeignete Formen der Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen zu fördern, damit ihr Zugang zu Informationen gewährleistet wird;
g) um den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, einschließlich des Internets, zu fördern;
h) um die Gestaltung, die Entwicklung, die Herstellung und den Vertrieb zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologien und -systeme in einem frühen Stadium zu fördern, sodass deren Zugänglichkeit mit möglichst geringem Kostenaufwand erreicht wird.
1.3 Handbuch „Berlin – Design for all – Öffentlich zugängliche Gebäude“
Zitat von Senator Michael Müller (Quelle: Handbuch „Berlin – Design for all – Öffentlich zugängliche Gebäude)
„Hintergrund für die zunehmende Beachtung des Themas (des barrierefreien Bauens; Anmerkung des Verfassers) ist die Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – UN-Behindertenrechtskonvention. Die UN-Konvention fordert mehr Selbstbestimmung und Teilhabe am öffentlichen Leben für alle Menschen und setzt damit neue Maßstäbe. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich diesen Vorgaben z.B. mit dem Nationalen Aktionsplan „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ vom Juni 2011 verpflichtet. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt unterstützt dieses gesamtgesellschaftliche Anliegen. Unter dem Begriff „Disability Mainstreaming“ soll Design for all von Beginn an zu einem wichtigen Bestandteil von Verwaltungs- und Planungsprozessen werden. (…) Die Stadt soll in ihrer ganzen Vielfalt ohne Hindernisse zugänglich sein. Das ist eine politische Forderung. Menschen sollen sich nach ihren persönlichen Möglichkeiten uneingeschränkt bewegen und begegnen können. Design for all wird künftig die Standortqualitäten der Städte bestimmen. Unsere zukünftige Aufgabe wird darin bestehen, öffentliche Gebäude und Räume so zu verändern, dass sie von allen Menschen selbstständig, einfach, intuitiv und komfortabel genutzt werden können.“
Diese politische Willensbekundung sollte bei der geplanten Novellierung der Bauordnung auch wieder zu finden sein bzw. berücksichtigt werden (siehe u.a. Schutzzielforderung § 3).
1.4 Gesetz versus Technische Baubestimmung
Gesetze – wie die Berliner Bauordnung – sind durch ein verfassungsmäßig vorgesehenes Gesetzgebungsverfahren zustanden gekommener Willensakt der Gesetzgebungsorgane. Die Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhaus haben die Berliner Bauordnung mehrheitlich beschlossen.
Technische Baubestimmungen (DIN-Normen) werden hingegen nicht von einem durch Wahlen legitimiertes Gremium erarbeitet, sondern durch Fachverbände (ohne die Einbindung von Behindertenverbänden).
Grundsätzlich: Rechtlich sind die DIN-Normen in Deutschland zunächst Empfehlungen, die nicht zwingend angewendet werden müssen. Die Landesbehörden können jedoch in ihren Bauordnungen Festlegungen treffen, die die Einhaltung von Normen der Barrierefreiheit für bestimmte Bauten, oder Anlagen z. B. „Gebäude mit mehr als einer Wohnung“, erfordern. Je nach Bundesland können unterschiedliche Regelungen in den Bauordnungen getroffen werden, die auch über die technischen Bestimmungen einer DIN-Norm hinausgehen.
Bei der Begründung zu einigen Änderungen im Referentenentwurf wird angeführt, dass bestimmte Passagen (bautechnische Konkretisierungen) nicht mehr notwendig seien. Diese Punkte würden in den Technischen Baubestimmungen (z.B. DIN 18040) geregelt werden.
Eine Deregulierung der Bauordnung – sprich: wichtige Punkte in der Bauordnung zu streichen – wird weiterhin dazu führen, dass die Verpflichtung zur Überwachung der Barrierefreiheit gemäß Artikel 9 der UN-BRK nicht mehr gewährleistet werden kann. Ferner bleibt zu befürchten, dass das Verbandsklagerecht weiter ausgehöhlt wird. Siehe hierzu Berliner Behindertenzeitung, Ausgabe Oktober 2014, Seite 6, Verfasser: RA Dr. Martin Theben.
Die Absicht, die Bauordnung zu „entbürokratisieren“, mutet per se erstrebenswert an, birgt im Fall der DIN-Normen zur Barrierefreiheit allerdings die Gefahr, dass gegen schutzwürdige Interessen verstoßen wird. Wie begründet diese Befürchtung ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Die DIN-Normen zur Barrierefreiheit wurden bis auf den heutigen Tag nur teilweise eingeführt.
Die Möglichkeit bei Sonderbauten von den Regelungen des barrierefreien Bauens nach § 52 Abs. 1 S.2 Nr 15 abzuweichen muss ersatzlos gestrichen werden. Sie ist in der derzeitigen Form auch viel zu unbestimmt. Außerdem bietet § 68 Abs. 1 [vorausgesetzt § 3 wird entsprechend angepasst] ausreichenden Schutz.
Kapitel „Standpunkte zum Referentenentwurf“
Die einzelnen Vorschläge und Forderungen zum Referentenentwurf können hier als PDF heruntergeladen werden: Synopse_Stellungnahme_BauO